Schrägkabelbrücken, Schrägkettenbrücke, Mischsysteme
Die Russky-Brücke bei Wladiwostok / Russland ist aktuell die größte Schrägseilbrücke der Welt. Ihre Hauptspannweite beträgt 1.104 m, die Höhe der Pfeiler 321 m. © Nikita Zhuravlev |
Ungewöhnlicher Blick auf eine der größten Schrägseilbrücken Europas: der Pont de Normandie in Frankreich, von der Mautstation aus gesehen. © Herrad Taubenheim |
Brief summary:The development of modern Cable Stayed Bridges began relatively late, although the principle has been known for a long time and experienced its first boom 200 years ago. But then there were several accidents, some of them tragic, which destroyed confidence in the system for a long time. |
Gemeinsam mit Hängebrücken gehören Schrägseilbrücken zu den "seilverspannten" Brückensystemen, deren Tragfähigkeit auf der Verwendung von Materialien beruht, die Zugkräfte aufnehmen können. Erst ab dem 20. Jhd. unterschied man zwischen Hänge- und Schrägseilbrücken, die vorher unter dem Begriff 'Kettenbrücken' zusammengefasst wurden.
Bei einer Hängebrücke wird die Fahrbahn normalerweise von zwei Hauptkabeln abgehängt, die über Pylone geführt werden und parabelförmig durchhängen. Schrägseilbrücken hingegen zeichnen sich grundsätzlich durch straff gespannte Kabel aus, die von einem oder mehreren Pylonen direkt (schräg) zum Fahrbahnträger führen. Auch für Schrägseilbrücken gab es Vorbilder aus Regionen, in denen Lianen, Bambus oder sonstige zugfeste Materialien wachsen. So gab es z.B. auf Java und Sumatra Bambusbrücken, auf die das Prinzip der Schrägseilbrücken zurückgeht.
Ebenso wie bei den Hängebrücken stammt die erste bekannte europäische Veröffentlichung einer Schrägseilbrücke von dem Universalgelehrten Faust Verantii (lateinisiert: Faustus Verantius), der aus dem Gebiet des heutigen Kroatien stammte. In seinem erstmals 1595 herausgegebenen Buch "Machinae Novae" zeigt er eine Brücke, die im Wesentlichen einer Schrägseilbrücke entspricht. Es gibt allerdings keine Hinweise darauf, dass zur Zeit des Verantius tatsächlich eine solche Brücke in Europa existierte.
Es ist daher zumindest fraglich, ob es sich hier um eine eigene Idee des Verantius handelte oder ob ihm Berichte aus fernen Ländern über ein solches Bauwerk übermittelt wurden. Die Idee der schrägen Seile wurde in Europa aber zunächst nicht für einen realen Brückenbau aufgegriffen und geriet daher schnell wieder in Vergessenheit. Es dauerte fast 200 Jahre, bis ähnliche Ideen wieder in einer gedruckten Veröffentlichung auftauchten.
Pons Ferreus: die 'eiserne Brücke'. Da eine Rückverankerung fehlt, wird die Fahrbahn nur durch das Eigengewicht der Türme gehalten. Von der obersten Kette geht ein vertikaler Hänger ab, was ein typisches Merkmal für Hängebrücken ist. Insofern war 'Pons Ferreus' nach heutigem Verständnis noch keine reine Schrägseilbrücke. Faustus Verantius: 'Machinae Novae' (1595) |
Der Bergmann, Apotheker und Erfinder Carl Immanuel Löscher veröffentlichte 1784 sein Werk "Angabe einer ganz besonderen Hangewerksbrücke" "... welche mit wenigen und schwachen Holz, ohne im Bogen geschlossen, sehr weit über einen Fluß kann gespannt werden, die größten Lasten trägt, und vor den stärksten Eisfahrten sicher ist" . Darin stellt er den Urtyp einer reinen Schrägseilbrücke vor, die in Ermangelung eines zugfesten Materials jedoch vollständig aus Holz bestehen sollte. Das für eine solche Brücke erforderliche Schmiedeeisen wurde erst ca. 50 Jahre später in England erfunden. Dennoch nahm Löscher mit seiner Veröffentlichung das Prinzip einer modernen Schrägseilbrücke vorweg. Obwohl auch die Holzbrücke Löschers vermutlich niemals gebaut wurde, berief sich die preußische Oberbaudeputation später auf Löscher und reklamierte die "Erfindung" dieses Systems für sich.
Einen weiteren theoretischen Anstoß für Schrägseilbrücken gab der französische Mathematiker, Physiker und Ingenieur Claude L.M.H. Navier (1785-1836). Sein 1823 veröffentlichtes Buch "Raport et Mémoire sur les ponts suspendus" enthielt neben einer Beschreibung vorhandener europäischer Hängebrücken auch einen Entwurf für eine reine Schrägseilbrücke, den er von seinem Landsmann Bernard Poyet übernommen hatte. Die Skizzen Naviers (bzw. Poyets) unterschieden sogar schon zwischen verschiedenen Möglichkeiten der Seilaufhängung, wie Harfen- oder Fächeranordnung. Allerdings führte Navier die Schrägseilbrücken wohl eher der Vollständigkeit halber auf, denn er war nicht von ihrer Stabilität überzeugt und wollte sie für den praktischen Brückenbau nicht unbedingt empfehlen. Stattdessen gab er grundsätzlich den Hängebrücken den Vorzug.
Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass Navier mit seiner Veröffentlichung vor allem den Bau eines eigenen Hängebrücken-Projektes in Paris vorbereiten wollte. Das war auch notwendig, denn Navier war bekannt, dass es für den Bau seines Pont des Invalides viele Neider und Widersacher gab. Doch alle PR-Maßnahmen blieben erfolglos. Als sich schon während der Bauarbeiten Risse im Fundament zeigten, wurde Navier der Auftrag prompt entzogen. Die halbfertige Brücke wurde wieder abgebrochen, ohne ihm Gelegenheit zu geben, das Bauwerk noch zu retten.
Entwurf einer Schrägseilbrücke von Carl Immanuel Löscher. Da die schrägen Abspannungen aus Holz gedacht waren, ist der Begriff "Schrägseilbrücke" hier natürlich nicht ganz korrekt. Carl Immanuel Löscher: "Angabe einer ganz besonderen Hangewerksbrücke..." (1784) |
Die ersten tatsächlich in Europa ausgeführten Brücken mit schräg abgespannten Drahtkabeln oder Ketten waren Kombinationen aus Hänge- und Schrägseilsystemen, ähnlich der schon von Faustus Verantius skizzierten Brücke. Im Jahre 1817 wurden in Schottland zwei derartige Fußgängerbrücken über den Tweed errichtet. James Redpath und John Brown errichteten bei King´s Meadow eine 33 m weit gespannte Drahtseilbrücke. Sie soll nur 1,20 m breit gewesen sein und nur auf einer Seite ein Geländer gehabt haben.
Die zweite Brücke bei Dryburgh Abbey wurde von den Brüdern John und Thomas Smith errichtet. Sie war eine Ketten-Hängebrücke, die mit Schrägseilen aus Draht verstärkt war. Auch sie war 1,20 m breit, aber mit 79 m deutlich länger. Beim Darübergehen soll sie sich wellenartig verformt haben und sie soll auch sehr empfindlich auf Seitenwind reagiert haben. Am 15.01.1818, nur ein halbes Jahr nach ihrer Eröffnung, brach sie bei einem Sturm zusammen. Kurze Zeit später wurde sie - wiederum von den Brüdern Smith - als reine Hängebrücke erneuert. Da die reine Hängebrücke wesentlich stabiler zu sein schien, wurde das Experiment mit den schrägen Seilen von den Experten in Europa allgemein als Misserfolg verbucht.
Die erste, und für längere Zeit auch die letzte reine Schrägseilbrücke, wurde 1825 in Nienburg an der Saale errichtet. Christian Gottfried Heinrich Bandhauer war Baumeister des Herzogtums Anhalt-Köthen und hatte den Auftrag erhalten, eine Brücke über die Saale zu schlagen. Es war die erste Brücke die er vollendete und es sollte auch seine letzte bleiben. Da sein Projekt unter erheblichem Kostendruck stand, hatte er sich mit den ersten im Ausland errichteten Hängebrücken beschäftigt, die gegenüber allen anderen Brückenarten deutlich billiger waren.
Die Abbildung (Ausschnitt) zeigt eine Schrägseilbrücke auf der Insel Java. Das Bild trägt den Titel: "Hängebrücke aus Bambusrohr". Sie soll 1828 von holländischen Soldaten errichtet worden sein. Bilder-Magazin für allgemeine Weltkunde, Leipzig / Pesth (1834) |
Aufgrund wirtschaftlicher Überlegungen sollte seine Brücke in der Mitte über einen aufklappbaren Bereich verfügen, damit der Fluss weiterhin von Segelschiffen mit stehenden Masten befahren werden konnte. Das war aber nur möglich, indem Bandhauer vom Prinzip einer klassischen Hängebrücke abrückte. Das Ergebnis seiner Überlegungen war ein System von zwei völlig unabhängigen Brückenhälften, die mit schräg verlaufenden Ketten an Holzpylonen befestigt waren.
Obwohl Bandhauer mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, gelang es ihm die erste reine Schrägseilbrücke der Welt für den damals üblichen Straßenverkehr zu bauen. Im Gegensatz zu den o.g. Vorläufern war die Nienburger Brücke nicht nur für Fußgänger konzipiert, sondern wurde auch von Reitern, Kutschen und schwer beladenen Fuhrwerken mit mehreren Zugtieren benutzt. Auch das Militär, sei es zu Fuß oder zu Pferd und mit Kanonen bestückt, konnte die Brücke passieren. Mit 7,60 m war sie daher auch deutlich breiter und schwerer als die Brücken in Schottland. Unglücklicherweise stürzte das Bauwerk nach einem halben Jahr unfallfreien Betriebs bei einem Fest unter einer großen Menschenmenge ein. Bei dieser Katastrophe waren über 50 Tote zu beklagen und dem unglücklichen Baumeister Bandhauer wurde der Prozess gemacht.
Allerdings brachten die Untersuchungen des Unglücks weder ein Verschulden des Baumeisters, noch einen grundsätzlichen Fehler am System der Schrägseilbrücke zutage. Die Ursache des Einsturzes war vielmehr eine völlig ungleichmäßige und unvernünftige Belastung durch die Teilnehmer des Festes, die aufgrund der Brückenordnung von der anwesenden Polizeigewalt hätte unterbunden werden müssen. Dennoch führte der Einsturz der Nienburger Brücke zu einem völligen Vertrauensverlust in dieses neue technische System. Insbesondere in Preußen hatte man die schräg gespannten Ketten von Anfang an kritisch gesehen und fühlte sich nun bestätigt.
Oben die King's Meadows Bridge bei Peebles (Schottland 1817), errichtet von Redpath & Brown. Die Fußgängerbrücke mit 33 m Spannweite war auch eine der frühesten Drahtseilbrücken Europas. Unten die Kettenbrücke bei Dryburgh, die ebenfalls 1817 in Schottland errichtet wurde. "James Drewry: "A Memoir of Suspension Bridges" [London 1832] |
Die Berichte in der internationalen Fachliteratur führten dazu, dass vorläufig weder in Deutschland noch sonst irgendwo auf der Welt Schrägseilbrücken gebaut wurden. Man musste erkennen, dass man die Wirkungsweise des Schrägseilprinzips noch nicht richtig verstanden hatte. Eines der nicht gelösten Probleme war die Herstellung der Ketten in der exakt vorgegebenen Länge, was für Schrägseilbrücken ein größeres Problem darstellt als für Hängebrücken. Die unterschiedliche Länge der einzelnen Kettenstäbe führte nämlich zu statisch unbestimmten Systemen, bei denen manche der schrägen Ketten mehr und andere weniger zu tragen hatten.
Schon in der Frühzeit des seilverspannten Brückenbaus wurde mit allerlei Mischsystemen experimentiert. Ein Beispiel dafür ist das "Taper Principle" des Bierbrauers James Dredge aus Bath in England. Im Norden Schottlands vollendete Dredge 1854 die erste Brücke nach diesem Prinzip, die heute noch erhalten ist. Die Bridge of Oich führt über das gleichnamige Gewässer, das eigentlich nur eine Verbindung zwischen Loch Ness und Loch Oich bildet. Das Hängesystem besteht aus Eisenstäben die Ketten bilden, wobei nur die obersten Ketten eine direkte Verbindung vom Pylon zum Fahrbahnträger haben. Die schrägen Abspannungen sind an der oberen Kette aufgehängt. Diese Kette verläuft aber nicht durchgehend wie bei einer Hängebrücke. Dadurch ist die Brücke praktisch zweigeteilt und jede Hälfte könnte für sich allein stehen. Dredge baute noch mindestens eine ähnliche Brücke in seiner Heimatstadt Bath. Letztlich konnte sich aber auch diese Sonderform nicht durchsetzen, weil sie in der Praxis schwer beherrschbar war.
Die Bridge of Oich in den schottischen Highlands. James Dredge verwendete viele, aber sehr dünne Kettenstäbe. Das vereinfachte die Montage der Ketten erheblich. Auch Reparaturen waren dadurch einfacher auszuführen, denn das Fehlen eines einzelnen Kettenstabes konnte die Tragfähigkeit der gesamten Brücke nicht wesentlich schwächen. © Bernd Nebel |
Einige Jahre später begann Johann August Röbling in Amerika wieder Brücken zu bauen, die zwar eigentlich Hängebrücken waren, aber zusätzlich über schräg angeordnete Kabel zur Aussteifung verfügten. Röbling verwendete immer Drahtkabel für die schrägen Abspannungen, mit denen er Verformungen des Fahrbahnträgers durch Verkehrslasten und Seitenwind begegnen wollte. Röbling setzte die Schrägseile unter anderem bei der Monongahelabrücke in Pittsburgh (1846), der Eisenbahnbrücke über den Niagara (1855), der Cincinnati-Covington-Bridge (1867) und schließlich bei der Brooklyn Bridge (1883) ein. In Bezug auf die Brooklyn Bridge behauptete er sogar, die schrägen Drahtseile seien allein dazu in der Lage, die Brücke zu tragen. Dennoch baute Röbling niemals eine reine Schrägseilbrücke.
Aus heutiger Sicht ist die Verwendung der schrägen Seile ein weiterer Beleg dafür, wie weit Johann August Röbling seiner Zeit und seinen damaligen Berufskollegen voraus war. Interessanterweise kommt man heute immer wieder auf Röblings Technik zurück. So verfügt auch die heute größte Hängebrücke der Welt über schräge Stabilisierungskabel.
Auf den britischen Inseln gab es nach den schlechten Erfahrungen in Schottland erstmals um 1868 wieder eine Renaissance der schrägen Seile durch Rowland M. Ordish (1824-1886). Gemeinsam mit seinem Partner William Le Feuvre baute er 1868 die Franz Josef Brücke in Prag. Die Moldaubrücke war 146 m weit gespannt und die erste Brücke, die nach dem patentierten System Ordish - Lefeuvre ausgeführt wurde. Das System wies einige Neuerungen gegenüber den früheren Mischformen auf. Die Besonderheit der Prager Brücke waren die senkrechten Hänger, die von den Hauptketten nur bis zu den darunter liegenden Schrägseilen reichten. Dadurch waren nur die schrägen Ketten direkt mit den Fahrbahnrändern verbunden. Während ihrer Betriebszeit musste die Prager Brücke allerdings mehrfach verstärkt werden um den immer schwerer werdenden Fahrzeugen standzuhalten. Nach einer Überlastung während des Zweiten Weltkrieges musste sie Anfang der 1950er Jahre abgebrochen werden.
Die von den Pylonen in beide Richtungen abgehenden schrägen Seile der Brooklyn Bridge. Schrägseile als zusätzliche Verstärkung von Hängebrücken sind heute wieder "en vogue". © Annika Nebel |
Das System Ordish - Lefeuvre zeichnete sich durch statisch unklare Verhältnisse aus und stieß schon beim Bau der Moldaubrücke auf heftige Kritik aus Fachkreisen. Nach nur wenigen ausgeführten Projekten konnte sich das Verfahren letztlich nicht durchsetzen.
Heute existieren nur noch zwei dieser Brücken, die teilweise schon mit erheblichem Aufwand restauriert werden mussten. Die bekanntere der beiden Die zweite noch vorhandene Brücke ist die Cavenagh Bridge in Singapur (1869) ist die Albert Bridge (1873), die in London die Stadtteile Chelsea und Battersea verbindet. Die Themsebrücke hatte ursprünglich eine Spannweite von 122 m und besteht in ihren zugbelasteten Elementen aus Schmiedeeisen.
Als auch die Albert Bridge nach dem zweiten Weltkrieg wegen mangelnder Tragfähigkeit abgebrochen werden sollte, brach ein Sturm der Entrüstung in der Londoner Bevölkerung los, dem sich die Politik schließlich ergab. Im Rahmen einer Restauration wurde sie 1973 in ihren wesentlichen Teilen verstärkt und durch einen zusätzlichen Pfeiler in Flussmitte unterstützt. Bei dieser Sanierung entstand auch der auffällige Anstrich des Tragwerks, der allerdings optisch stark vom Originalzustand abweicht.
Den nächsten Entwicklungsschritt hin zu den modernen Schrägseilbrücken machte um die Jahrhundertwende der Franzose Albert Gisclard. Er baute auf den schon vorhandenen Mischsystemen auf und entwickelte sie für die wesentlich größeren Lasten der Eisenbahn weiter. Der französischen Tradition entsprechend benutzte er bei seinen Brücken aber ausschließlich Drahtkabel.
Die Franz-Josef-Kettenbrücke in Prag war eine der wenigen nach dem System Ordish-Lefeuvre gebauten Brücken (1868). Sie führte über die Moldau und hatte eine Spannweite von 147 m. Wegen statischer Probleme musste sie nach dem Zweiten Weltkrieg abgebrochen werden. |
Beim 1909 vollendeten Pont de Cassagne ersetzen die beiden obersten Schrägseile die Hauptkabel einer Hängebrücke. Gisclard führte sie vom Kopf des Pylons bis zum Fußpunkt des gegenüberliegenden Pfeilers und verband sie mit den kreuzenden Kabeln des zweiten Pylons. An den so entstandenen Schnittpunkten hängte er den Träger mit senkrechten Kabeln auf. Leider konnte Gisclard nur zwei dieser Brücken selbst vollenden. Er kam bei den Probebelastungen an der Cassagnebrücke ums Leben, als ein Zug entgleiste und insgesamt sechs Menschen in den Tod riss.
Nach dem Unglück in Nienburg an der Saale dauerte es fast genau 100 Jahre, bevor wieder ein Versuch mit einer reinen Schrägseilkonstruktion gewagt wurde. Das heute noch vorhandene, aber fast vergessene Bauwerk befindet sich im andalusischen La Barca de la Florida und wurde 1926 von Eduardo Torroja gebaut. Der "Aquädukt von Tempul" ist keine Verkehrsbrücke, sondern eine offene Wasserleitung, die 60 m weit über den Rio Guadalete gespannt ist. Die Schrägseile bestehen aus Stahl und sind zum Schutz gegen Korrosion mit Beton verkleidet.
Das Schrägseilsystem war Mitte der 1930er Jahre zwar hinlänglich bekannt, aber alles andere als etabliert. Weder für die Eisenbahn, noch für Straßenbrücken war bis zu diesem Zeitpunkt (bis auf die Saalebrücke in Nienburg) eine reine Schrägseilbrücke gebaut worden. Vor diesem Hintergrund ist die nach dem Zweiten Weltkrieg beginnende sprunghafte Entwicklung dieses Brückentyps durchaus bemerkenswert.
Der vielseitige französische Ingenieur Albert Caquot (1881-1976) war 1952 der erste, der es nach Gottfried Bandhauer wagte, eine reine Schrägseilbrücke für den Straßenverkehr zu bauen. Caquots Brücke führt bei Pierrelatte über den Donzèrekanal und besteht noch heute. Von zwei rahmenförmigen Portalen gehen in beide Richtungen 18 starke Einzelkabel aus (neun je Fahrbahnseite), die jeweils in Dreiergruppen zusammengefasst sind. Der trogförmig versteifte Träger hat eine Hauptspannweite von 81 m und eine Gesamtlänge von 160 m. Unter den vielen von Caquot gebauten Brücken blieb sie allerdings die einzige Schrägseilbrücke.
Der Pont de Lézardrieux beim gleichnamigen Ort in der Bretagne ist eine nach dem System Gisclard erbaute Schrägseilbrücke. Sie wurde 1925 von Gaston Leinekugel-Lecocq unter Verwendung von starken Stahlseilen errichtet. Die Brücke führt über den Fluss Trieux und hat eine Hauptspannweite von 119 m. © Herrad Taubenheim |
In Deutschland waren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sämtliche Brücken über die großen Flüsse zerstört, die meisten davon erst in den Jahren 1944-45 durch die auf dem Rückzug befindliche Wehrmacht. Da die Verkehrsinfrastruktur - und damit natürlich auch die Brücken - seit dem Beginn der Industrialisierung das Rückgrat jeder fortschrittlichen Industrienation ist, mussten in Deutschland nach der "Stunde Null" in kürzester Zeit zahllose Brücken ersetzt werden.
Der durch diese Situation entstehende Inovationsdruck sollte die Entwicklung der Schrägseilbrücken entscheidend vorantreiben. Der wesentliche Grund dafür war ihr Kostenvorteil gegenüber allen anderen Brückensystemen. Dennoch gehörte sehr viel Mut dazu, um das durch Misserfolge in Verruf geratene System aufzugreifen und schließlich in eine Erfolgsgeschichte zu verwandeln. Als wichtigste Förderer der Schrägseiltechnik in Deutschland sind vor allem Franz Dischinger (1887-1953), Friedrich Tamms (1904-1980), Gerd Lohmer (1909-1981) und Fritz Leonhardt (1909-1999) zu nennen. Allerdings entstand die erste Brücke dieser neuen Generation nicht in Deutschland, sondern in Schweden.
Franz Dischinger erhielt 1953 von der schwedischen Straßenbauverwaltung den Auftrag, bei Strömsund eine Brücke über den Faxälven zu bauen. Die von ihm entworfene Schrägseilbrücke hat mit 181 m eine ca. 100 m größere Spannweite als die Brücke Caquots bei Pierrelatte. Aus heutiger Sicht fällt bei der Strömsundbrücke und auch den darauffolgenden Schrägseilbrücken in Deutschland auf, dass der Träger nur an wenigen Kabeln aufgehängt ist. Dadurch entstehen an den Angriffspunkten der Kabel relativ große Biegemomente, was zwangsläufig zu einer größeren Trägerhöhe führt. Später ging die Entwicklung daher zu einer größeren Anzahl von Schrägkabeln und entsprechend niedrigeren Balkenquerschnitten.
Name | Ort | Spannweite | Beteiligt | Jahr |
---|---|---|---|---|
Saalebrücke | Nienburg | 118 m | Gottfried Bandhauer | 1825 |
Theodor-Heuss-Brücke | Düsseldorf | 260 m | Friedrich Tamms, Fritz Leonhardt | 1957 |
Severinsbrücke | Köln | 302 m | Gerd Lohmer, Fritz Leonhardt | 1961 |
Rheinbrücke | Leverkusen | 280 m | Hellmut Homberg | 1965 |
Kniebrücke | Düsseldorf | 319 m | Friedrich Tamms / Fritz Leonhardt | 1969 |
Rheinbrücke Neuenkamp | Duisburg | 350 m | Paul Boué | 1971 |
Oberkasseler Brücke | Düsseldorf | 258 m | Friedrich Tamms, Fritz Leonhardt | 1973 |
Köhlbrandbrücke | Hamburg | 325 m | Egon Jux, Paul Boué | 1974 |
Fleher Rheinbrücke | Düsseldorf | 368 m | Gerd Lohmer, Fritz Leonhardt | 1979 |
Neue Rügenbrücke | Stralsund | 198 m | André Keipke | 2007 |
Niederrheinbrücke | Wesel | 335 m | 2009 |
Die erste moderne Schrägseilbrücke Deutschlands war die Theodor-Heuss-Brücke (oder auch "Nordbrücke"), die 1957 in Düsseldorf eröffnet wurde. Sie war die erste der drei Rheinbrücken, die gemeinsam als "Düsseldorfer Brückenfamilie" bezeichnet werden. Es war die Idee des Architekten Friedrich Tamms, für alle drei Brücken ähnliche Entwurfskriterien vorzuschreiben und dennoch individuell gestaltete Bauwerke zu realisieren. Gemeinsam mit Fritz Leonhardt baute Tamms 1969 auch die Rheinkniebrücke (Spannweite: 319 m) und 1973 die Oberkasseler Brücke (258 m).
Dazwischen war Leonhardt aber auch in Köln tätig und arbeitete gemeinsam mit dem Architekten Gerd Lohmer am Bau der Severinsbrücke. Sie war die erste Schrägseilbrücke mit einem A-fömigen Pylon, wurde 1961 vollendet und hat eine Spannweite von 302 m. Ebenfalls mit Lohmer baute Leonhardt schließlich die Fleher Rheinbrücke (1979), die mit einer Spannweite von 368 m bis heute die größte Schrägseilbrücke Deutschlands ist.
Plötzlich waren die Schrägseilbrücken wieder in aller Munde und Deutschland stand im Zentrum der von internationalen Fachkreisen beobachteten Entwicklung. Die modernen Schrägseilbrücken waren leicht und sehr tragfähig, dabei aber schneller und kostengünstiger herzustellen als eine Hängebrücke. Der Kostenvorteil von Schrägseilbrücken gegenüber Hängebrücken beruht unter anderem darauf, dass sie keine Ankerblöcke benötigen und im "Freien Vorbau" hergestellt werden können. Die Kabel werden in der Regel in voller Stärke montiert und abschnittsweise direkt mit dem jeweiligen Fahrbahnsegment verbunden. Im Vergleich zur zeitraubenden Kabel- und Trägerherstellung bei einer Hängebrücke führt dies zu Einsparungen an Zeit und Geld. Eine Schrägseilbrücke mit zwei Pylonen kann zudem von beiden Uferseiten aus gleichzeitig hergestellt werden, weil im Gegensatz zu Hängebrücken nicht auf die Fertigstellung der Hauptkabel gewartet werden muss.
Der Entwurf für die Severinsbrücke in Köln stammt von dem Architekten Gerd Lohmer, in Zusammenarbeit mit Fritz Leonhardt. Bei der Eröffnung im Jahr 1959 war sie mit ihrer Hauptspannweite von 302 m die größte Schrägseilbrücke der Welt. © Bernd Nebel |
Auch in gestalterischer Hinsicht sind Schrägseilbrücken sehr vielseitig. Neben dem Preisvorteil trug daher auch ihr Variantenreichtum zu ihrer Beliebtheit bei. So gibt es z.B. einhüftige und zweihüftige Systeme, unterschiedlichste Pylongestaltungen bis hin zu Bögen, Dreiecken und anderen geometrischen Formen, verschiedene Seilanordnungen und Varianten bei der Anzahl und Gestaltung der Seilebenen. Die Seile können an den Rändern des Trägers angreifen oder mit nur einer Seilebene in Trägermitte, zwischen den Fahrbahnen. Neben diesen häufig vorkommenden Systemen gibt es immer wieder auch außergewöhnliche Ideen, wie z.B. das "Taper Principle" von James Dredge, Calatravas Harfe in Sevilla oder den Ponte do Milenio in Ourense / Spanien.
Schrägseilbrücken können fast beliebig oft hintereinandergeschaltet werden und so als Multischrägseilbrücke große Distanzen überwinden. Bei einer Hängebrücke müssten zwischen den einzelnen Abschnitten immer wieder Verankerungsblöcke zwischengeschaltet werden, wie dies z.B. bei der Oakland Bay Bridge in San Francisco der Fall ist. Beispiele für Multischrägseilbrücken sind z.B. der Viaduc de Millau in Frankreich und die Harilaos-Trikoupis-Brücke in Griechenland.
Nach dem tragischen Brückeneinsturz in Nienburg hatten moderne Schrägseilbrücken nur sehr selten negative Schlagzeilen gemacht. Zu Unfällen war es allenfalls durch Fehler während des Baus gekommen, oder wie im Fall der Sunshine Skyway Bridge Die Sunshine Skyway Bridge in Tampa / USA war 1980 durch den Anprall eines Schiffes eingestürzt. Dabei waren 33 Menschen ums Leben gekommen. durch äußere Gewalteinwirkung. Doch dann kam es 2018 im italienischen Genua zum Einsturz des Polcevera-Viadukts, auch Morandi-Brücke genannt. Diese Brücke beruhte aber auf einem besonderen System des Architekten Riccardo Morandi, bei dem der Träger nur an zwei starken Stahlkabeln je Pylon aufgehängt war. Zudem waren die Kabel mit Beton verkleidet und konnten daher sehr schlecht kontrolliert und gewartet werden konnten. Bei dem Unglück in Genua kamen 43 Menschen ums Leben.
Die Oberkasseler Brücke gehört zur "Düsseldorfer Brückenfamilie". Sie wurde 1973 unter wesentlicher Beteiligung von Friedrich Tamms und Fritz Leonhardt gebaut. Die Rheinbrücke ist eine einhüftige Schrägseilbrücke mit I-förmigem Einzelpylon. Nur acht starke Seile sind in einer Ebene harfenförmig angeordnet. © Gudrun Nows-Hansen www.noha-foto.de/ |
Die aktuelle Entwicklung der Schrägseilbrücken wird vor allem in Asien und hier insbesondere von China vorangetrieben. In China entstanden auch die ersten Schrägseilbrücken, mit denen die magische 1.000 m-Grenze überschritten wurde. Die Stonecutters-Brücke (Hong Kong / 2009) hat eine Spannweite von 1.018 m und ist über 50 m breit. Noch größer ist die Sutong-Brücke bei Suzhou aus dem Jahre 2008 mit 1.088 m Spannweite. Die derzeit größte Schrägseilbrücke der Welt ist aber die Russky-Brücke bei Wladiwostok / Russland. Das über den östlichen Bosporus führende Bauwerk aus dem Jahr 2012 hat eine Spannweite von 1.104 m (Foto siehe ganz oben).
Neben der Russky-Brücke zählt heute aber nur noch ein weiteres europäisches Bauwerk zu den zehn größten Schrägseilbrücken der Welt, nämlich der Pont de Normandie in Frankreich. Die acht anderen befinden sich allesamt in Asien, größtenteils in China. Von China dürften in der näheren Zukunft noch weitere Schrägseilbrücken in dieser Größenordnung zu erwarten sein.
Schrägseilbrücken werden heute besonders wirtschaftlich bei Spannweiten zwischen 200 und 800 m eingesetzt. Bei kürzeren Spannweiten sind Balkenbrücken meist kostengünstiger und für größere Spannweiten werden bisher noch Hängebrücken bevorzugt. Es bleibt aber abzuwarten, ob dies zukünftig so bleibt, oder ob sich die Schrägseilbrücken, vielleicht auch in Kombination mit Hängesystemen, bei größeren Spannweiten durchsetzen werden.
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