Der Einsturz des Polcevera-Viadukts

Genua / Italien, 14.08.2018



Die drei zentralen Pylone des Polcevera-Viakukts (v.r.n.l. Pfeiler 9, 10 und 11). Pylon Nr. 9 im Vordergrund stürzte am 14.08.2018 in sich zusammen.
Jeder Pylon bestand aus einem doppelten A-förmigen Pfeiler. Dazwischen befanden sich 4-fache x-förmige Stützen auf denen der Fahrbahnträger auflag.
Name: Viadotto sul Polcevera
auch: "Morandi-Brücke"
Ort: Genua
Land: Italien
Konstruktionstyp: Schrägseilbrücke
Material: Spannbeton, Stahl
Bauzeit: 1962 - 1967
Beteiligte Personen: Riccardo Morandi
Verkehrsart: Autobahn
Gesamtlänge: 1.102 m
Größte Spannweite: 208 m
Lichte Höhe: 43 m
Einsturz: 14.08.2018
Sprengung der Ruine: 28.06.2019
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Der unvermittelte Kollaps des Polcevera-Viadukts in Genua war die erste große Katastrophe dieser Art seit vielen Jahrzehnten. Gleichzeitig war es einer der wenigen Brückeneinstürze, die durch Filmmaterial dokumentiert werden konnten.

Der Polcevera-Viadukt in Genua war ein recht eigenwilliges Bauwerk des römischen Architekten Riccardo Morandi (1902 - 1989). Morandi war einer der ersten Brückenbau-Ingenieure, die ihre volle Aufmerksamkeit dem Spannbeton zuwandten. Betonbauteile mit vorgespannten Stählen haben eine lange Entwicklungsgeschichte, deren letzter und wichtigster Schritt dem französischen Ingenieur Eugène Freyssinet vorbehalten war. Nachdem Morandi in Italien einige Bogenbrücken aus Spannbeton gebaut hatte, beteiligte er sich 1957 mit einem Firmenkonsortium vorwiegend deutscher Unternehmen an der internationalen Ausschreibung für die Brücke über den Maracaibosee in Venezuela.


Die Schrägseilbrücken nach dem 'System Morandi'

Für diese Brücke mit einer Gesamtlänge von über 8 ½ km, schlug Morandi zum ersten Mal eine Multi-Schrägseilbrücke aus Spannbetonelementen vor. In statischer Hinsicht handelte es sich um eine Schrägseilbrücke, zwischen deren Pylonen relativ kurze, beweglich Träger eingehängt sind, ganz ähnlich wie bei einer Auslegerbrücke mit Gerberträger. Das war aber nicht die einzige Besonderheit des Systems Morandi. Im Gegensatz zu den heute meist verwendeten Seilaufhängungen in Harfen- oder Fächerform, verwendete Morandi nur jeweils zwei Seilbündel pro Pylonseite, die ganz außen am Fahrbahnträger angreifen.

Die Maracaibosee-Brücke war das erste und auch gleich das anspruchsvollste Bauwerk das Morandi nach seinem System baute. Sie ist mit Abstand die längste der drei Brücken, wobei allein die Hauptöffnungen für die Schifffahrt 5 x 235 m ausmachen. Die Gründung erfolgte in bis zu 18 m tiefem Wasser und darunter stand noch eine bis zu 28 m mächtige Schlammschicht an. Für die Gründung der Pylone mussten daher teilweise 58 m lange Bohrpfähle verwendet werden. Auch die Rahmenbedingungen für die Bauarbeiten waren wesentlich anspruchsvoller als in Genua, denn der See ist eigentlich eine tropische Meeresbucht Maracaibo befindet sich am Nordufer des Sees, an der Einmündung in die Karibische See. Hier hat das Brackwasser fast noch einen Salzgehalt wie im offenen Meer. mit entsprechenden Wetterbedingungen.

Nach ihrer Inbetriebnahme wurde die Maracaibosee-Brücke in der internationalen Fachwelt als Schritt in eine neue Dimension des Schrägseilbrückenbaus gefeiert. Für Morandi und die beteiligten Baufirmen war die Brücke in den nächsten Jahren Referenzobjekt für weitere Projekte. Morandi erhielt noch während der Bauarbeiten in Maracaibo den Auftrag für die Ausarbeitung des Entwurfs für die Brücke in Genua. Eigentlich war der Bau des Polcevera-Viadukts nur die Übertragung eines bereits bewährten Systems auf ein deutlich kleineres Bauwerk. Dabei schienen die äußeren Arbeitsbedingungen durchaus leichter beherrschbar zu sein als in Venezuela.


Der Polcevera-Viadukt


Quer- und Längsschnitt der drei Pylone des Polcevera-Viadukts
Quer- und Längsschnitt der drei Pylone des Polcevera-Viadukts. Die A- und X-förmigen
Stützen haben keine direkte Verbindung, sind also völlig unabhängig voneinander.

Dennoch hatte auch der Brückenbau in Genua seine Tücken. Das Flussbett des Polcevera ist kurz vor der Mündung in das Mittelmeer zwar nur ca. 60 m breit, aber die Brücke sollte das gesamte Tal auf einer Länge von fast 1.200 m überspannen. Dabei sollte die Fahrbahn in einer Höhe von bis zu 45 m über dem Gelände führen. Ein großer Teil des Areals unterhalb der Brücke war bebaut, teilweise mit Fabrikhallen und Gewerbebetrieben aber auch mit Wohnhäusern. Auch zahlreiche Straßen und mehrere Eisenbahntrassen verliefen unter der Brücke.

Die Bauarbeiten begannen 1962 und zogen sich bis in den Sommer 1967 hin. Die beauftragte Firma war die Società Italiana per Condotte d'Acqua, eines der größten Bauunternehmen Italiens. Im Gegensatz zur Maracaibosee-Brücke konnte die Gründung zwar 'trocken' erfolgen, aber auch in Genua stieß man erst in großer Tiefe auf tragfähigen Untergrund. Aufgrund der latenten Erdbebengefahr in Venezuela hatte der Bauherr der Maracaibosee-Brücke verlangt, dass im Falle des Einsturzes eines Brückenfeldes die benachbarten Felder nicht in Mitleidenschaft gezogen werden dürfen. Dieses Prinzip wurde auch in Genua übernommen.

In Bezug auf die Schrägseile nahm Morandi gegenüber der Maracaibosee-Brücke eine wichtige Veränderung vor, die nach dem Einsturz der Brücke für Diskussionen unter den Fachleuten sorgte. Jedes der Schrägseile in Genua besteht aus mehreren kräftigen Drahtlitzen, die vollständig in einem quadratischen Stahlbetonmantel eingebettet sind. Eine solche Ummantelung hatte die Brücke in Venezuela nicht. Diese Modifikation sollte zum einen die Schwingungen der Kabel verringern und zum anderen eine bessere Korrosionsbeständigkeit bewirken. Im Beton ist Eisen normalerweise gut geschützt, weil der Zement ein alkalisches Milieu um den Stahl erzeugt, der aus chemischen Gründen das Rosten verhindert. Allerdings muss der Beton auch dicht sein, denn dieser Schutz geht teilweise verloren, wenn der Beton Risse bekommt.

Das Prinzip der Schrägseilbrücken mit einbetonierten Zugstäben war aber keineswegs neu, denn der spanische Ingenieur Eduardo Torroja hatte es bereits 1925 beim Bau des Tempul-Aquäduktes bei Jerez de la Frontera / Andalusien angewendet. Morandi selbst wiederholte diese Bauweise auch bei der Wadi-Kuf-Brücke, wobei er jedoch einen wesentlich stärkeren Betonquerschnitt wählte. Auch der schweizerische Brückeningenieur Christian Menn goss bei der 1980 vollendeten Gantherbrücke an der Simplonstraße seine Zugseile in Beton ein.

Ein Nachteil dieses Systems gegenüber den freiliegenden Kabeln ist die eingeschränkte Kontrollmöglichkeit der Drahtbündel auf Beschädigungen. Man kann die Seile natürlich nicht optisch inspizieren und die lückenlose Prüfung mit technischen Verfahren ist in der Praxis schwer durchführbar. Dies gilt zumindest für die ersten Betriebsjahre der Morandi-Brücke. Heute sind die technischen Möglichkeiten deutlich besser geworden. Bei der Brücke in Genua scheint diese Bauweise spätestens nach etwa 20 Jahren die ersten Probleme bereitet zu haben. Bei einer Sanierung in den 1990er Jahren verstärkte man die Seilaufhängung am östlichen Pylon Nr. 11, indem man außen an den Betonumhüllungen jeweils 12 neue Stahlkabel anbrachte. Die alten im Beton eingeschlossenen Kabel wurden anschließend gekappt, blieben aber an Ort und Stelle. In Kenntnis der späteren Folgen stellt sich natürlich die Frage, warum man diese Maßnahme nur am östlichen, und nicht gleich auch am mittleren und dem (eingestürzten) westlichen Pylon vornahm.

Heute löst man die beiden oben genannten Probleme der Seilaufhängung bei Schrägseilbrücken übrigens anders. Ausreichenden Korrosionsschutz der Kabel erreicht man durch mehrfache chemische Schutzanstriche und abnehmbare Verkleidungen, z.B. aus Kunststoff. Zerstörerische Schwingungen hat man beim Pont de Normandie unterbunden, indem man die Litzen zusätzlich mit lotrecht zu den Seilen verlaufenden Versteifungskabeln verband.

Das 'System Morandi' sollte sich auf lange Sicht nicht durchsetzen. Sowohl in Maracaibo als auch in Genua zeigten sich nach einigen Betriebsjahren die Schwächen des hauptsächlich vom Baustoff Beton geprägten Systems. Auch Morandi selbst modifizierte sein Konstruktionsprinzip nach dem Bau der Wadi-Kuf-Brücke grundlegend. Auch die Wadi-Kuf-Brücke musste bereits in den 1990er Jahren grundlegend saniert werden. 2017 wurde sie von den lybischen Behörden für den Verkehr gesperrt, da man erhebliche statische Schäden festgestellt hatte.


Erste Zweifel an der Zukunft des Bauwerks


Der oberhalb der Fahrbahn befindliche Teil des eingestürzten Pylons
aus der Sicht eines Autofahrers (Oktober 2017)

Am 4. September 1967 wurde der Polcevera-Viadukt unter großer Anteilnahme der Bevölkerung und der Medien von Staatspräsident Saragat eingeweiht. Ähnlich wie bei der Brücke in Maracaibo war man sich sicher, nun über eines der modernsten Brückensysteme der Welt zu verfügen und für viele Jahrzehnte die größten Verkehrsprobleme Genuas gelöst zu haben. Der Polcevera-Viadukt führte eine vierspurige Straße der Autobahn Genua - Savona (A10) in ost-westlicher Richtung über das Tal. In westlicher Fahrtrichtung schloss sich unmittelbar an die Brücke der knapp ein Kilometer lange Coronata-Tunnel an und direkt dahinter befand sich eine Mautstation. Bei starkem Verkehrsaufkommen staute sich der Verkehr manchmal durch den Tunnel zurück bis auf die Brücke.

Die ersten Jahre verrichtete der Polcevera-Viadukt seinen Dienst noch ohne besondere Auffälligkeiten oder größere Sanierungsmaßnahmen. Allerdings wurde der Verkehr auf der Brücke von Jahr zu Jahr dichter und auch die Anzahl und das Gewicht der Lastkraftwagen nahmen spürbar zu. Entsprechend häuften sich die Unterhaltungsmaßnahmen und Sanierungen. Morandi war die Sensibilität seines Bauwerks durchaus bewusst und man kann nicht sagen, dass er die Verantwortlichen nicht gewarnt hätte. Bereits 1979, also nur 12 Jahre nach der Inbetriebnahme, machte er öffentlich auf die Notwendigkeit einer ständigen Überwachung der tragenden Teile aufmerksam und mahnte einen akribischen Korrosionsschutz an.

Spätestens seit dem Jahrtausendwechsel häuften sich die kritischen Stimmen aufgrund der ständigen und immer kostspieligeren Reparaturen. Zu einem der größten Kritiker der Brücke wurde nun der Bauingenieur Antonio Brencich, ein Honorarprofessor für Stahlbetonbau an der Universität in Genua. Brencich ist selbst Genuese und mit dem dominanten Bauwerk in seiner Umgebung aufgewachsen. Bereits 2014 forderte er den kompletten Abriss der Brücke, weil die Unterhaltungskosten überproportional zunahmen, und nach seiner Überzeugung schon bald die Abschreibungskosten für einen kompletten Neubau übersteigen würden. Er sagte: "Früher oder später muss diese Brücke ersetzt werden. Es wurden bereits so viele Instandhaltungsarbeiten geleistet, dass es langsam günstiger wäre, etwas Neues zu bauen". Zwei Jahre später verstärkte er seine grundlegende Kritik an dem Bauwerk noch einmal in einem Radiointerview: "Von wegen Meisterstück, die Morandi-Brücke ist ein Versagen der Ingenieurwissenschaft", lautete sein vernichtendes Urteil.


Der Einsturz am 14. August 2018

Am 14. August 2018 ging kurz vor Mittag ein heftiges Unwetter über Genua nieder. An der Brücke waren gerade - wie fast immer in den letzten Jahren - Sanierungsmaßnahmen im Gange, die unter anderem auch die Fundamente des westlichen Pylons betrafen. Auch Arbeiten zur Verstärkung des Fahrbahnträgers sollen gerade durchgeführt worden sein. Auf der Brücke herrschte reger Verkehr, denn viele Italiener waren bereits auf dem Weg in die kühleren Regionen des Landes. Am 15. August wird im katholischen Italien traditionell der 'Ferragosto' (Maria Himmelfahrt) gefeiert. In jeder Sommersaison ist dies eine der verkehrsreichsten Wochen des Jahres, denn viele Italiener verbringen den Ferragosto gerne am Meer oder in den Bergen.

Um 11:36 geschah das Unfassbare: plötzlich und ohne Vorwarnung stürzte der westlichste der drei großen massiven Pfeiler in sich zusammen. Es gibt mehrere Filmaufnahmen des Einsturzes, die von Überwachungskameras oder Handys aufgezeichnet wurden. Mit dem Pylon stürzten auch die beiden anschließenden Kragträger in die Tiefe, die mit den Schrägseilen direkt am Pylon befestigt waren. Auch die daran anschließenden Gelenkträger, also die Verbindungsstücke zum Nachbarpylon bzw. -pfeiler, stürzten ab. Insgesamt entstand innerhalb weniger Sekunden eine Lücke von ca. 250 m Länge in der Autobahn.

Bei den späteren Untersuchungen stellte man fest, dass über 30 PKW und 3 LKW samt der Fahrbahn 45 m in die Tiefe gestürzt waren. Deren Fahrer und Insassen hatten keine Chance dem Desaster zu entgehen. Andere konnten aufgrund der rutschigen Fahrbahn und der schlechten Sichtbedingungen nicht rechtzeitig bremsen und stürzten ebenfalls ab. Nur wenige in der unmittelbaren Gefahrenzone hatten mehr Glück. Eindrucksvoll ist das Bild eines grünen LKW in Erinnerung geblieben, dessen Fahrer es gerade noch geschafft hatte, sein Fahrzeug vor dem tödlichen Abgrund zum Stehen zu bringen.


Rettungsmaßnahmen


Fangnetze unterhalb des eingestürzten Pylons im Mai 2015
Fangnetze unterhalb des eingestürzten Pylons im Mai 2015. Die Netze sollten verhindern,
dass Passanten unterhalb der Brücke von herunterfallenden Betonbrocken verletzt werden.

Bereits wenige Minuten nach dem Unglück waren in ganz Genua die Martinshörner der Rettungsfahrzeuge zu hören. Auch unter der Brücke hatte es durch herabstürzende Trümmerteile in dem dicht bebauten Gebiet Opfer gegeben. Das ganze Ausmaß der Katastrophe war auf den ersten Blick kaum zu erfassen und brachte in den nächsten Stunden auch erfahrene Rettungskräfte an ihre Grenzen. Die Bergungsarbeiten der Toten und Verletzten dauerten Tage. Erst eine Woche nach dem Unglück konnte man die Opferzahl bekanntgeben: 43 Menschen hatten bei dem Unglück ihr Leben verloren.

Obwohl in einem solchen Moment der Katastrophe die Rettungsmaßnahmen im Vordergrund stehen sollten, kursierten noch am Tage des Unglücks die wildesten Spekulationen über die Ursache des Einsturzes. Bedauerlicherweise beteiligten sich auch einige Politiker an diesen Mutmaßungen, obwohl zu diesem Zeitpunkt objektiv keinerlei belastbare Erkenntnisse vorlagen. Sofort wurde die Betreiberfirma für das Unglück verantwortlich gemacht und mangelhafte Wartung unterstellt. Wenn die Politiker dies schon zwei Stunden nach dem Einsturz wussten, warum waren sie dann nicht schon viel früher gegen die Schlamperei vorgegangen? Die erst seit wenigen Monaten im Amt befindliche Staatsregierung unter Ministerpräsident Giuseppe Conte gab sogar bekannt, dass die EU eine Mitverantwortung an der Tagödie trage.

Es gibt mehrere Filmaufnahmen des Einsturzes, die von einem Handy und Überwachungskameras aufgezeichnet wurden. Die Handyaufnahme wurde aus größerer Distanz aufgenommen, wobei allerdings der untere Teil des Pylons nicht zu sehen ist. Außerdem ist das Video von sehr schlechter Qualität, die durch den Regen zusätzlich beeinträchtigt wird. Beim Start des Videos ist der Fahrbahnträger westlich des Pylons bereits abgestürzt und erst dann beginnt sich der Pylon zu zerlegen. Diese Reihenfolge könnte ein Indiz für das Versagen eines Tragkabels sein. Erst im Juli 2019 wurde von den Behörden ein weiteres Filmdokument des Einsturzes freigegeben. Dieses zeigt die Katastrophe aus einer wesentlich näheren Perspektive, die dem Betrachter die ganze Tragödie des Ereignisses schonungslos vor Augen führt.

Schon wenige Tage nach dem Einsturz wurde bekannt gegeben, dass die Brücke nach Abschluss der Bergungsarbeiten komplett abgetragen und durch ein völlig neues Bauwerk ersetzt werden müsse. Allerdings war höchste Eile geboten, denn durch die fehlende Brücke herrschten rund um Genua nach dem Unglück chaotische Zustände. Zunächst stand aber die Sicherung der Trümmerteile und die Ursachenforschung im Vordergrund.


Juristische Aufarbeitung

Einige Tage nach dem Unglück berief das Ministero delle Infrastrutture e dei Trasporti Ministerium für Infrastruktur und Verkehr eine Expertenkommission zur Klärung der Ursachen. Als Leiter des Gremiums wurde Roberto Ferrazza benannt, ein hoher Beamter dieses Ministeriums. Ein weiteres Mitglied war Antonio Brencich, der oben schon erwähnte Kritiker der Brücke. In der Öffentlichkeit wurde die Berufung der beiden Fachleute kritisiert, weil sie bereits im Februar 2018 Teil eines Expertenteams waren, das ein Gutachten zur Sicherheit der Brücke abgeben hatte. Im damaligen Bericht war unter anderem zu lesen, dass einige der Schrägkabel in ihrem Betonmantel von Rost befallen seien und einzelne Querschnitte bereits um 10-20% reduziert waren. Einige Medien waren daher der Ansicht, dass sich die Kontrolleure nun selbst kontrollieren würden.

Am 5.11.2018 wurden Trümmerteile der eingestürzten Brücke von Genua ins schweizerische Dübendorf transportiert. Hier wurden die Bauteile in einem Institut der EMPA (Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt) untersucht. Dabei wurden in den Betonummantelungen der Stahlseile offenbar Fremdkörper wie Jute und loser Sand festgestellt. Letzendlich wurde die mangelhaften Unterhaltung und Überprüfung der Brücke als Grund für den Einsturz ausgemacht. Die Tragseile am Pylon Nr. 9, die zuerst gerissen waren, verfügten im Mittel nur noch über 50% ihres ursprünglichen Stahlquerschnitts. Die Betreiberfirma werhrte sich gegen die Anschuldigungen, aber die juristische Aufarbeitung des Unglücks dürfte nach viel Zeit in Anspruch nehmen.


Der Bau der Ersatzbrücke

Am 28. Juni 2019 wurden die Ruinen des Polcevera-Viadukts mit einer kontrollierten Sprengung niedergelegt. Die beiden noch stehenden Pylonen und das etwa 400 m lange verbliebene Teilstück des Fahrbahnträgers wurden in einer spektakulären Detonation dem Erdboden gleich gemacht. Große Teile Genuas versanken für einige Minuten in einer Wolke aus Betonstaub. Dann war die tragische Unglücksbrücke endgültig Geschichte und der Platz für etwas Neues geschaffen.

Die neue Sankt-Georg-Brücke ist seit August 2020 in Betrieb. Wie auf dem Bild deutlich
zu erkennen ist, befinden sich unterhalb der Brücke jetzt nur noch wenige Wohnhäuser.

Mit dem Entwurf wurde der aus Genua stammende Architekt Renzo Piano beauftragt, der sogar den Vorzug vor dem internation angesagten Starachitekten Santiago Calatrava erhielt. Die Bauarbeiten der neuen Brücke dauerten von April 2018 bis August 2020 und verliefen damit außergewöhnlich zügig. Die kurze Bauzeit war nur möglich, weil sonst übliche Rahmenbedingungen zur Baurechtschaffung und eines geordneten Vergabewettbewerbs weitgehend außer Kraft gesetzt wurden. Selbst die in der Schlußphase der Arbeiten auftretende weltweite Covid-19 Pandemie führte zu keinen nennenswerten Verzögerungen des Bauablaufs.

Schon am 3. August 2020 konnte das neue Bauwerk vor großem Medienaufgebot und - trotz Coronakrise - zahlreich erschienener Prominenz eingeweiht werden. Allerdings blieben die Angehörigen der 43 Opfer der Veranstaltung fern. Zwei Tage später wurde die Brücke dem öffentlichen Verkehr übergeben und damit das Verkehrschaos in Genua beseitigt. Da nichts mehr an die Unglücks-Brücke erinnern soll, ist auch der Name der Brücke neu: Viadotto Genova San Giorgio (Viadukt Sankt Georg, Genua).

Seit der Sprengung des Polcevera-Viadukts gibt es weltweit nur noch zwei Brücken nach dem System Morandi. Die ältere, die Brücke über den Maracaibosee, wird man in den nächsten Jahren mit einer gewissen Besorgnis beobachten müssen. Durch die klimatischen Bedingungen in Meeresnähe und die zeitweise chaotischen politischen Verhältnisse in Venezuela ist zu befürchten, dass die Wartung der Brücke - vielleicht noch mehr als in Italien - vernachlässigt wird.


Interessante Videos zum Polcevera-Viadukt:

Virtuelle Fahrt über die Brücke (wenige Tage vor dem Einsturz)

Syncronisation von drei Videos im Moment des Einsturzes

Im Juli 2019 freigegebenes Video vom Einsturz

Helikopterflug über der eingestürzten Brücke
Quellen: Interne Links:
  • Riccardo Morandi: "The long-term behaviour of viaducts subjected to heavy traffic and situated in an aggressive environment: the viaduct on the Polcevera in Genoa"; Schweiz 1979
  • Camomilla, Gabriele / Pisani, Francesco / Martinez y Cabrera, F.: "Repair of the stay cables of the Polcevera Viaduct in Genova, Italy"; Schweiz 1995
  • Volker Link: "Die Morandi-Brücke in Genua - Risse im Tragseil als mögliche Ursache?"
    http://www.genua-ursachen.info/
  • Kristian Hasenjäger: "The Morandi Bridge in Genova"
    http://www.retrofutur.org/retrofutur/app/main?DOCID=1000111180
  • Simons / Wind / Moser: "Die Brücke über den Maracaibo-See"; Wiesbaden 1963
  • Thomas Vogel: "Christian Menn - Brückenbauer"; Basel 1997
  • diverse Internetseiten


www.bernd-nebel.de

© Dipl.Ing. Bernd Nebel