Auslegerbrücken

Kragbalken, Auslegerträger, Gerberträger, 'Balanced Cantilever Bridge'

Traditionelle Auslegerbrücke
Eine traditionelle Auslegerbrücke in Nepal. Auf beiden Uferseiten sind Baumstämme mit schweren Steinen eingespannt,
welche die Funktion von Auslegern übernehmen. Die Lücke zwischen den Kragarmen wird durch Bretter oder Balken geschlossen.
Kragarm von Galileo Gallilei
Ein eingespannter Kragträger mit Last.
Skizze von Galileo Galilei (1564-1642).

Brief summary:

Cantilever bridges are a further development of beam bridges and in their most original form are almost as old. They were first built in Asia, where they are still widely used today. While they were almost always made of wood in their original form, they were not used in Europe until the end of the 19th century as iron structures for railroad lines. Between 1890 and 1930, this type of bridge held the world record for the largest single span.

Auslegerbrücken sind eine Weiterentwicklung der Balkenbrücken und in ihrer ursprünglichsten Form auch fast genauso alt. Zuerst wurden sie in Asien gebaut und dort sind sie auch heute noch weit verbreitet. Während sie in ihrer Urform fast immer aus Holz bestanden, wurden sie in Europa erst Ende des 19. Jahrhunderts als Eisenbauwerke für Eisenbahnlinien eingesetzt. Zwischen 1890 und 1930 hielt dieser Brückentyp den Weltrekord der größten Einzelspannweite.

Das Foto ganz oben zeigt eine traditionelle Auslegerbrücke aus Baumstämmen in Nepal, bei der das Prinzip gut erkennbar ist. Wie man ebenfalls sofort erahnen kann, sind solche Bauwerke nicht für die Ewigkeit bestimmt. In den Bergregionen des Himalaya werden sie häufig von Hochwässern zerstört und sofort wieder aufgebaut. Das benötigte Baumaterial findet sich meist in der nächsten Umgebung: schwere Steine und möglichst lange Baumstämme.


Was ist eine Auslegerbrücke?

Auslegerbrücken bezeichnet man auch als "Kragbrücken" oder "Gerberträger". Im englischen Sprachraum nennt man sie "Cantilever Bridge" und in Frankreich "porte-à-faux". Sie bauen auf dem Prinzip der Balkenbrücken auf, ermöglichen aber größere Spannweiten. Die Spannweite einer einfachen Balkenbrücke wurde früher durch die Länge der vorhandenen Materialien begrenzt, also z.B. der Baumstämme oder den daraus hergestellten Balken. Durch die Auslegerbauweise konnte man mit dem gleichen Material eine größere Spannweite überbrücken.

Generell ist ein Ausleger (oder ein "Kragarm") ein balkenförmiges Bauteil das auf einer Seite eingespannt ist und dessen anderes Ende frei in den Raum hineinragt (siehe auch Skizze von Gallileo Galilei). Insofern kann man auch den Arm eines Krans oder den Sprungturm in einem Schwimmbad als Ausleger bezeichnen.

Für ein Feld einer Auslegerbrücke gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten:
1. Zwei Kragarme stehen sich in geringem Abstand gegenüber und sind durch ein Gelenk miteinander verbunden (siehe Foto Viaduc de Viaur).
2. Zwei Kragarme stehen sich mit einem größeren Abstand gegenüber und sind mit einem zwischengeschalteten "Einhängeträger" verbunden. An beiden Enden des Einhängeträgers befinden sich Gelenke (siehe Foto ganz oben).

Vor dem großflächigen Ausbau des Schienennetzes für die Eisenbahnen spielten Auslegerbrücken in Europa nur eine untergeordnete Rolle. Brücken für Fußgänger, Fuhrwerke und Reittiere wurden von der Zeit der Römer bis in die Neuzeit entweder als Holzbalkenbrücken oder in der langlebigen Variante als Steinbogenbrücke, bzw. auch Kombinationen aus beidem, gebaut. Etwa ab 1825 kamen Hänge- und Schrägseilbrücken hinzu, besonders wenn größere Spannweiten zu überwinden waren. Dafür verwendete man Ketten oder Drahtseile, was aber erst möglich war, als man Eisen in entsprechender Qualität und Menge produzieren konnte.


Die Eisenbahn stellt hohe Anforderungen an den Brückenbau

Die Fortschritte bei der Eisenerzeugung leisteten einen Beitrag zur Erfindung und weltweiten Verbreitung der Eisenbahn, des ersten echten Massenverkehrsmittels. Durch den Schienenverkehr wurde das gesamte Transportwesen und letztlich auch die Weltwirtschaft revolutioniert. Die erste offizielle Eisenbahnlinie der Welt wurde 1825 in England zwischen Stockton und Darlington eröffnet. Um 1830 gab es in Europa bereits ein Schienennetz mit einer Gesamtlänge von 24.500 km und 50 Jahre später waren es schon über 283.000 km. Ähnlich stürmisch verlief die Entwicklung in Amerika: hier hatte das Streckennetz um 1900 eine Länge von 310.000 km.

Varianten der Balkenträger
Varianten des mehrfeldrigen Balkenträgers, bzw. Auslegerträgers. Die Dreiecke
symbolisieren Auflager (mit Unterstrich: beweglich, ohne Unterstrich: festes Lager).
Die kreisförmigen Unterbrechungen des Balkens sind Gelenke.

Der schnelle Ausbau der Eisenbahnlinien stellte ganz neue Herausforderungen an den Brückenbau. Nicht nur die Anzahl der benötigten Brücken war enorm, sondern auch die statischen Anforderungen und die erforderlichen Spannweiten stellten die Ingenieure vor ganz neue Herausforderungen. Ein Eisenbahnzug ist wesentlich schwerer als die vorher üblichen Straßenfahrzeuge, nämlich Pferdekutschen und Ochsenkarren. Zudem übt die Eisenbahn durch die Art ihres Antriebs und die höheren Geschwindigkeiten, eine wesentlich dynamischere Belastung auf alle Teile einer Brücke aus. Der Träger aber auch die Widerlager und Pfeiler bis zu den Fundamenten werden durch die Eisenbahn daher wesentlich stärker beansprucht. Diese Dynamik der Eisenbahn wurde beim Bau der Brücken immer wieder unterschätzt.

Kurz vor Beginn des Eisenbahnzeitalters waren Hängebrücken für den Straßenverkehr in Europa sehr erfolgreich. Thomas Telford hatte 1826 die Menai Strait Brücke vollendet, die damals größte Brücke der Welt mit einer Hauptspannweite von 177 m. Sie wurde 1849 vom Grand Pont Suspendu in Fribourg / Schweiz abgelöst, der es schon auf eine Weite von 273 m brachte. Weitere Hängebrücken mit Rekordspannweiten folgten, bis 1889 mit der Brooklyn Bridge in New York (486 m) ein vorläufiger Höhepunkt erreicht wurde.

Außer der Brooklyn Bridge, auf der anfangs auch leichte Straßenbahnwagen fuhren, waren alle diese Brücken aber nicht für Schienenfahrzeuge konzipiert, sondern für leichten Straßenverkehr. Natürlich versuchte man in den kommenden Jahrzehnten auch für die Eisenbahn Hängebrücken zu bauen. Schon die ersten Versuche waren allerdings sehr entmutigend. Bereits 1829 war bei Stockton in England mit dem Bau einer Eisenbahn-Hängebrücke über den Tees begonnen worden. Sie war gemeinsam von Robert Stephenson und Captain Samuel Brown Brown hatte 1820 die legendäre Union Chain Bridge gebaut. geplant worden. Bereits bei der Belastungsprobe im Dezember 1830 wurden erhebliche Verformungen des Trägers und Beschädigungen der Pylone festgestellt. Daraufhin musste man den Träger mit einem zusätzlichen Pfeiler im Fluss abstützen. Das sorgte für reichlich Ärger, weil sowohl die Admiralität als auch die Handelsschifffahrt Flusspfeiler im Vorfeld der Bauarbeiten kategorisch ausgeschlossen hatten. Nach dieser Erfahrung galten in Großbritannien Hängebrücken grundsätzlich als ungeeignet für die Eisenbahn.

Johann A. Röbling vollendete 1855 eine Hängebrücke über den Niagarafluss, die übereinanderliegend getrennte Ebenen für den Straßenverkehr und die Eisenbahn hatte. Vielleicht war dies schon die erfolgreichste Hängebrücke aus der Frühzeit der Eisenbahnen, denn sie bestand immerhin bis 1896. Aber dann war sie nicht mehr ausreichend tragfähig für die immer schwerer und schneller werdenden Lokomotiven und musste durch eine Stahlbogenbrücke ersetzt werden.

Ein weiterer Versuch eine Hängebrücke - in diesem Fall eine Kettenbrücke - für die Eisenbahn zu etablieren, unternahm Friedrich Schnirch 1860 in Wien. Schnirch hatte schon mehrere Kettenbrücken für den Straßenverkehr gebaut, bevor er die Verbindungsbahnbrücke über den Donaukanal vollendete. Bereits im Vorfeld der Bauarbeiten hatte es viel Kritik von Fachleuten gegeben und schon bei der Probebelastung zeigten sich ernsthafte Stabilitätsprobleme. Der Verkehr musste im Laufe der Jahre zuerst reglementiert und später auch reduziert werden, bis die Brücke schließlich 1880 abgetragen wurde.


Vor- und Nachteile von Durchlaufträgern

Nach den negativen Erfahrungen nahmen die Eisenbahngesellschaften immer mehr Abstand vom Bau neuer Hängebrücken auf ihren Strecken. Allerdings war das ein sehr schmerzlicher Verzicht, denn mit Hängebrücken konnte man zu dieser Zeit die größten Spannweiten verwirklichen und sie waren außerdem auch vergleichsweise billig. Sie wären daher eine willkommene Lösung für den schnellen Ausbau der Schienennetze gewesen aber nun musste man andere Möglichkeiten finden.

Zunächst baute man Eisenbahnbrücken in traditioneller Art als Balken- oder Bogenbrücke. In England und Amerika nahm man vor allem Holz für Fachwerkbrücken, weil es überall verfügbar und daher preiswert war. So kam man zügig mit dem Ausbau der Linien voran. Holz hat allerdings den Nachteil, dass es ständiger Unterhaltung bedarf und nach wenigen Jahren komplett ausgetauscht werden muss. Zudem brannten Holzbrücken häufig ab, meist verursacht durch die Dampflokomotiven selbst, die aus ihren Schornsteinen glühende Partikel ausstießen. Steinbogenbrücken waren zwar auch für die Eisenbahn eine grundsätzliche Möglichkeit aber schon damals sehr teuer und sehr langwierig im Bau. Was es bedeutet, eine große Talbrücke für die Eisenbahn aus Ziegelsteinen zu bauen, zeigt das Beispiel der Göltzschtalbrücke.

Der Viaduc de Viaur in Frankreich
Der Viaduc de Viaur (1902 / 220 m) in Zentralfrankreich ist eine Auslegerbrücke ohne
Einhängeträger. Die beiden unabhängigen Kragarme treffen sich in der Mitte über dem Tal.
Dort sind sie mit einem Gelenk verbunden das sowohl Zug- als auch Druckkräfte aufnehmen kann.

Auch im Brückenbau begann daher nun die große Zeit des Eisens. Zunächst verwendete man Bauweisen, die man schon aus dem Holzbau kannte, also z.B. auch Fachwerkbrücken. Es gab aber auch ganz neue Ideen, wie den kastenförmigen Hohlträger, der zum ersten Mal 1850 bei der Britannia Bridge verwirklicht wurde. Der Gitterträger der Dirschauer Weichselbrücke (1857) hatte dieselbe Querschnittsform, benötigte aber deutlich weniger Material. Die erreichbaren Spannweiten erfuhren dadurch einen erheblichen Schub, waren aber immer noch nicht ausreichend, um die Wünsche der Eisenbahngesellschaften an jeder Stelle zu befriedigen. Nach ersten Erfahrungen mit parallelgurtigen Trägern, wurden alle möglichen Fachwerksformen ausprobiert: parabel- oder bogenförmig, nach oben oder nach unten gekrümmt, Linsen- oder Fischbauchträger, trapezförmige Träger, usw.


Erste Auslegerbrücken aus Eisen

In der zweiten Hälfte des 19. Jh. waren die damit zu erzielenden Spannweiten aber immer noch recht gering und kamen meist nicht über 100 m hinaus. Die berühmt-berüchtigte Brücke am Tay war nach ihrer Vollendung mit 3.264 m zwar die längste Brücke der Welt, aber ihre größten Einzelspannweiten betrugen nur 75 m. Eine der größten Eisenbahnfachwerkbrücken ihrer Zeit war die Lekbrücke im niederländischen Culemborg (1868), die mit ihrer Spannweite von 155 m aber schon eher eine Ausnahme darstellte.

Zur Überwindung breiterer Flüsse eignen sich Balkenbrücken mit mehreren Feldern, wobei es dafür in statischer Hinsicht verschiedene Möglichkeiten gibt. Entweder man platziert jeweils einen kurzen Einzelträger zwischen zwei Pfeilern, wobei sich über jedem Pfeiler ein Gelenk befindet, oder man führt einen langen durchlaufenden Balken, einen sogenannten "Durchlaufträger", über die gesamte Länge der Brücke.

Durchlaufträger sind in der Regel wirtschaftlicher als Einzelträger, u.a. weil man sie von den Widerlagern aus, in Vorschubbauweise (Taktschiebeverfahren), errichten kann. Allerdings haben Durchlaufträger auch einen gravierenden Nachteil: sie sind statisch unbestimmt. Ein statisch unbestimmtes System kann man sich ungefähr so vorstellen: man denke sich einen Balken, der von drei Männern getragen wird, wobei einer deutlich kleiner ist als die beiden anderen. Dadurch wird die gesamte Last auf die größeren Personen verteilt, während die Kleinere nichts oder nur wenig tragen muss. Auch wenn die Träger annähernd gleich groß sind, gibt es doch immer kleine Unterschiede, sodass nie alle drei die gleiche Last tragen. Die beschriebene Anordnung entspricht dem statischen System "Balken auf drei Stützen" und ist "statisch 1-fach unbestimmt". Ein Balken auf vier Stützen ist also 2-fach statisch unbestimmt, usw.

Wenn sich die Fundamente eines Durchlaufträgers mit mehr als zwei Stützen unterschiedlich stark setzen, verteilt sich die Last ungleichmäßig auf die Pfeiler. Dadurch ist die Anordnung statisch unbestimmt. Dieses System kann man nicht wie einen Balken auf zwei Stützen berechnen und es könnten Schäden auftreten. Zurzeit der ersten Gelenkträger wurde dieser theoretische Ansatz auf jedes Material, also auch auf Eisen und Stahl, angewandt. Die Erkenntnis, dass sich Stahl nach einer gewissen Zeit unter Belastung verformt, führte 1913 zur Entwicklung der Plastizitätstheorie, die solche Verformungen berücksichtigt. Dieser Prozess erfolgt natürlich sehr langsam und nur in engen Grenzen durch Umlagerungen in der Kristallstruktur des Metalls. Da auch die Setzung eines Pfeilers bei normalen Bedingungen über einen längeren Zeitraum abläuft, kann sich ein Stahlträger durchaus an kleine Setzungsunterschiede im Zentimeterbereich anpassen.


Heinrich Gerber und der Gerberträger


Heinrich Gerber
Der Bauingenieur Heinrich Gerber.

Der in Hof geborene Ingenieur Heinrich Gerber (1832-1912) suchte um 1864 nach einer Möglichkeit, die Vorteile der Durchlaufträger mit denen der Einfeldträger zu kombinieren. Vorher hatte es schon theoretische Ansätze durch August Ritter und Claus Köpcke gegeben, die in der Praxis jedoch zu keinem durchgreifenden Erfolg führten. So war es Gerber, der das System mit zwei gegenüberliegenden Kragarmen und einem Einhängeträger dazwischen erfand, die mit Gelenken verbunden sind. Da in einem Gelenk kein Biegemoment auftreten kann, ist es durch entsprechende Anordnung der Gelenke möglich, immer ein statisch bestimmtes System zu erhalten, in dem Setzungsunterschiede nicht zu Schäden führen können. Durch Gerbers "Träger mit freiliegenden Stützpunkten" konnte die Spannweite zwischen den Auflagern um die Länge des "Gerberträgers" vergrößert werden.

Gerber ließ sich seine Erfindung 1866 patentieren, nachdem er zwei Jahre zuvor die Straßenbrücke über den Main bei Haßfurth nach diesem System gebaut hatte. Obwohl sie weltweit die erste moderne Auslegerbrücke aus Stahl war, blieb sie zunächst von der Fachwelt weitgehend unbeachtet. Erst anlässlich der Weltausstellung von 1873 in Wien, beschäftigte sich die Deutsche Bauzeitung mit dieser Brücke. Allerdings war ihr Urteil nicht besonders schmeichelhaft, denn sie beanstandete die "abenteuerliche, hässliche Erscheinung der Brücke". Mit solcher Kritik musste in den folgenden Jahrzehnten noch so manche Fachwerk-Auslegerbrücke leben, insbesondere wenn sie nach rein statischen Gesichtspunkten entworfenen wurde. Gerber waren die ästhetischen Mängel der ersten Auslegerbrücken offenbar bewusst, denn er arbeitete bei späteren Projekten meist mit einem Architekten zusammen.

Gegen Ende des 19. Jh. nahm die Zahl der Auslegerbrücken zu und für die Variante mit Einhängeträger setzte sich im deutschsprachigen Raum die Bezeichnung "Gerberträger" durch. Insbesondere von britischer Seite wurde die alleinige Urheberschaft deutscher Ingenieure für die Einhängeträger jedoch bestritten. Vor allem im Zusammenhang mit dem Bau der Firth of Forth Eisenbahnbrücke wurde darauf hingewiesen, dass die Ingenieure John Fowler Fowler war am Bau der Firth of Forth Bridge maßgeblich beteiligt. und Daniel Kinnear Clark bereits um 1850 entsprechende Ideen veröffentlicht hatten. Der Streit blieb auf akademischer Ebene, denn alle Publikationen waren auch im jeweiligen Ausland erschienen. Es war also auch zur damaligen Zeit schon über den Ärmelkanal hinweg möglich, sich über entsprechende Veröffentlichungen zu informieren. Gerbers Patent war aber eine unumstößliche Tatsache, die auch in Großbritannien akzeptiert wurde.


Die große Zeit der Auslegerbrücken beginnt

Für die Eisenbahn eröffneten Auslegerbrücken mit Gerberträger neue Möglichkeiten, um breitere Flüsse und andere Hindernisse zu überwinden. In den ersten Jahrzehnten des stürmischen Ausbaus der Eisenbahnlinien, von 1825 bis etwa 1865, hatte man die Möglichkeiten von Fachwerkträgern mit einer Vielzahl von Trägerformen weitgehend ausgereizt. Das Schritthalten mit den ständig schwerer werdenden Lokomotiven und die Steigerung der Spannweiten, war nur durch immer größeren Materialeinsatz möglich.

Insofern boten sich die Fachwerk-Auslegerbrücken mit Einhängeträger geradezu an, die Heinrich Gerber mit seinem Patent soeben wissenschaftlich durchdrungen und in ein Regelwerk für die statische Berechnung gefasst hatte. Der durchlaufende Träger kann bis zu den Gelenken entweder im Vorschubverfahren oder im Freien Vorbau hergestellt werden. Ein auf dem Boden stehendes Gerüst unter der Brücke ist somit nicht erforderlich. Das Verfahren eignet sich daher auch für Standorte, die unterhalb der Brücke unzugänglich oder Z.B. Wasserfläche, Naturschutzgebiet, Bebauung zu tief sind. Der Einhängeträger wird meistens an einem Werkplatz vorgefertigt und als Ganzes zwischen den Kragarmen positioniert. Eine andere Möglichkeit besteht darin, die Gelenke zunächst zu versteifen und den Einhängeträger von beiden Seiten aus ebenfalls im Freien Vorbau zu montieren. Danach wird die Beweglichkeit der Gelenke wieder hergestellt. Dieses Verfahren wählte man zum Beispiel bei der Firth of Forth Brücke.

Bis Anfang der 1880er Jahre waren in Europa und Amerika schon zahlreiche Auslegerbrücken gebaut worden, sowohl für den Straßen- als auch den Schienenverkehr. Die größten bis dahin erreichten Spannweiten Z.B. Kentuckybrücke in Cincinnati (1877, 114 m) oder die Niagara Cantilever Bridge (1883, 143 m). lagen aber noch unter 150 m. Ein echter Quantensprung für diesen Brückentyp gelang dann aber mit dem Bau der Eisenbahnbrücke über den Firth of Forth in Schottland. Denn mit diesem Bauwerk entstand nicht nur die größte Auslegerbrücke, sondern überhaupt die Brücke mit den größten Einzelspannweiten der Welt. Die beiden Hauptöffnungen der Brücke haben lichte Weiten von jeweils 521 m , wovon die Einhängeträger 198 m ausmachen.


Ein Quantensprung: Die Firth of Forth Eisenbahnbrücke

Durch ihre Gesamtlänge von fast 2,5 km und einer gewissen Überdimensionierung wirkt sie ausgesprochen wuchtig und massiv. Das war aber in diesem Fall durchaus beabsichtigt, denn sie wurde wenige Jahre nach dem Einsturz der Tay-Brücke bei Dundee gebaut, bei dem 75 Menschen gestorben waren. Es ging daher unter anderem auch darum, verloren gegangenes Vertrauen der Bevölkerung in die Eisenbahn und den Brückenbau zurückzugewinnen.

Montage des Auslegers der Firth of Forth Brücke
Der Bau der Eisenbahnbrücke über den Firth of Forth (Schottland).
Montage einer der beiden Einhängeträger durch temporäre Fixierung der Gelenke.

Der Bau der Firth of Forth Bridge war eine nationale Herausforderung, sowohl in Bezug auf die bereitzustellende Arbeitskraft, als auch auf die unglaublichen Mengen des benötigten Materials, insbesondere des Eisens. Kein Land außer Großbritannien wäre zu dieser Zeit zu einer solchen Anstrengung in der Lage gewesen, nur um eine einzige Brücke zu bauen. Eine Steigerung schien kaum noch möglich, und tatsächlich wurde die Spannweite der Firth of Forth Bridge bis heute nur einmal von einer Auslegerbrücke übertroffen.

Die Brücke über den St.-Lorenzstrom in Quebec / Kanada ist mit einer Spannweite von 549 m bis heute die größte Auslegerbrücke der Welt. Aufgrund mehrerer Unfälle und Verzögerungen bei ihrem Bau, zeichnete sich mit ihr aber schon das nahende Ende der großen Fachwerk-Auslegerbrücken ab. Nach einem fast vollständigen Einsturz im August 1907 kam es beim Einhängen des Gelenkträgers am 12. September 1916 zu einem zweiten Unfall mit vielen Opfern. Als die Brücke 1919 endlich dem Eisenbahnverkehr übergeben werden konnte, war die Verbreitung des Automobils schon weit vorangeschritten. Bereits 1951 wurde eines der beiden Gleise entfernt, um Platz für das neue Verkehrsmittel zu schaffen.


Das Ende der Fachwerkausleger

Letztlich waren aber verschiedene Faktoren für die rückläufige Zahl neuer Auslegerbrücken aus Eisenfachwerk verantwortlich. Sicherlich waren die Probleme beim Bau der Brücke über den St.-Lorenzstrom von der Fachwelt sehr genau beobachtet worden. Die monumentalen Stahlgebilde schienen an ihren Grenzen angekommen zu sein. Überdies war der Bau solcher Brücken auch sehr material- und lohnintensiv. Da Lohnkosten im Bauwesen eine immer größere Rolle spielten, büßten sie ihre Konkurrenzfähigkeit ein.

Es gab aber noch einen weiteren Grund, der zu ihrem Verschwinden beitrug: sie entsprachen nicht mehr den ästhetischen Ansprüchen der damaligen Zeit. Je größer die Spannweiten wurden, umso massiver mussten auch die Pylone und der Träger sein. Um das Erscheinungsbild der Auslegerbrücken zu verbessern, war man in Europa frühzeitig dazu übergegangen, ihre Konturen an die Umrisse einer Hängebrücke Z.B. Blaues Wunder in Dresden, Eiserner Steg in Frankfurt, Freiheitsbrücke in Budapest und Glienicker Brücke in Potsdam. anzugleichen . Der Firth of Forth Brücke kann man vielleicht noch eine gewisse Ästhetik abgewinnen, die sie vor allem aus ihrer sichtbaren Stärke bezieht und weil sie dadurch ein Gefühl der Sicherheit vermittelt.

Als einer der letzten großen Fachwerkausleger wurde die Howrah Brücke über den Hoogly River in Kolkota / Indien gebaut. Sie wurde zwischen 1937 und 1943 von der englischen Kolonialverwaltung errichtet, und ist bis heute eine der am stärksten frequentierten Brücken Indiens. Sie wurde noch komplett genietet, obwohl anderenorts zu dieser Zeit auch schon geschweißt wurde. Ihre Spannweite beträgt 457 m, wovon der Einhängeträger 166 m ausmacht.

Der deutsche Brückenbauer Fritz Leonhardt urteilte in seinem Buch "Brücken, Ästhetik und Gestaltung": "Mit Fachwerken sind schon abschreckende Brücken gebaut worden mit einer verwirrenden Unordnung der Stabführung. So ist die erste Hooghly-River-Brücke in Kalkutta in meinen Augen eine der hässlichsten Brücken, die täglich von Tausenden von Menschen und Fahrzeugen benutzt werden muß." Diese Beschreibung lässt sich ohne Weiteres auch auf die Lansdowne-Brücke in Pakistan anwenden. Sie wurde 1889 von der britischen Administration errichtet und besteht noch heute.

Eine der größten Auslegerbrücken Europas ist, neben der Firth of Forth Brücke in Schottland, die Donaubrücke bei Cernavoda in Rumänien. Die 1895 eröffnete Brücke trägt heute den Namen des Ingenieurs, der sie geplant hatte: Anghel Saligny, einem Beamten der rumänischen Staatseisenbahnen. Die eingleisige Brücke hat eine Gesamtlänge von 1.662 m und eine Hauptspannweite von 190 m. Die Anghel-Saligny-Brücke besteht noch heute, ist unter Denkmalschutz gestellt, aber außer Betrieb.


Auslegerbrücken aus Beton

In Amerika entstanden auch über die Mitte des 20. Jh. hinaus noch einige große Fachwerkausleger, wie z.B. die Crescent City Connection I in Greater-New Orleans (1958) oder die Commodore Barry Brücke (1974) über den Delaware. Aber dann ging auch in diesem Teil der Welt die Ära der stählernen Fachwerkbrücken langsam zu Ende. Trotz der Material- und Zeiteinsparung durch die Schweißtechnik waren sie im Vergleich zu Stahlbeton- und Spannbetonbrücken einfach zu teuer.

Der Individualverkehr mit dem Auto gewann immer mehr an Bedeutung und führte zu einem Rückgang des Schienenverkehrs. Auch bei größeren Spannweiten waren für die meisten Straßenbrücken aber leichtere Systeme wie Hänge- oder Schrägseilbrücken ausreichend tragfähig. Außerdem entstanden schon um 1890 die ersten Brücken aus Stahlbeton, die wirtschaftlicher und schneller gebaut werden konnten als eine Fachwerkbrücke. Dennoch blieben Fachwerk-Auslegerbrücken als Sonderlösung in Amerika durchaus in Gebrauch.

Balanced Cantilever Bridge
Das Waagebalken-Prinzip ("Balanced Cantilever Bridge") im Freien Vorbau,
kurz bevor sich die Kragarme über dem Tal treffen.

Etwa ab 1930 wurden Auslegerbrücken auch aus Stahlbeton gebaut und noch etwas später auch als vollwandige Stahlträger. Größere Talbrücken mit mehreren Feldern werden heute gerne von den Pfeilern ausgehend in beide Richtungen gleichzeitig betoniert, sodass der Pfeiler im Gleichgewicht bleibt. Bei dieser Methode ist der Überbau fest mit dem Pfeiler verbunden. Das heißt, es gibt kein Lager zwischen Träger und Pfeiler. An ihrem Treffpunkt werden die beiden Kragarme entweder durch ein Gelenk miteinander verbunden oder steif ausbetoniert. Bei letzterer Variante erhält man als statisches System einen starren Rahmen. Die Variante mit Gelenk ist statisch gesehen eine Auslegerbrücke ohne Einhängeträger, ähnlich wie der Viaduc de Viaur (dieser allerdings in Stahlbauweise).

Das Bauverfahren, bei dem von einem Pfeiler ausgehend in beide Richtungen gleichzeitig Kragarme betoniert werden, nennt man Waagebalken-Prinzip oder auf Englisch: "Balanced Cantilever Bridge". Bei Gerberträgern aus Beton kommt der konstruktiven Ausbildung der Gelenke eine besondere Bedeutung zu, um Schäden in diesem empfindlichen Bereich zu vermeiden.

Ähnliche System sind grundsätzlich auch als vollwandiger Stahlträger möglich, die leichter aber teurer sind. Wegen der vorteilhaften Bauweise werden Stahlvollwandträger manchmal wie Auslegerbrücken hergestellt aber nach der Montage in den Gelenken versteift (verschweißt), sodass man nur während der Bauphase von einer Auslegerbrücke mit Gerberträger sprechen kann, letztendlich aber einen Durchlaufträger erhält.

Quellen: Interne Links:
  • Georg Mehrtens: "Der deutsche Brückenbau im XIX. Jahrhundert" [Reprint der Originalausgabe aus dem Jahr 1900. Düsseldorf 1984]
  • Hans Wittfoht: "Triumph der Spannweiten" [Düsseldorf 1972]
  • Hans Pottgießer: "Eisenbahnbrücken aus zwei Jahrhunderten" [Basel 1985].
  • Charlotte Jurecka: "Brücken - Historische Entwicklung, Faszination der Technik" [Wien 1986].
  • Fritz Leonhardt: "Brücken - Ästhetik und Gestaltung" [Stuttgart 1994]
  • Klaus Stiglat: "Brücken am Weg - Frühe Brücken aus Eisen und Beton in Deutschland und Frankreich" [Berlin 1997]
  • Dirk Bühler: "Brückenbau". [Deutsches Museum München 2000]
  • Richard J. Dietrich: "Faszination Brücken - Baukunst, Technik, Geschichte" [München 2001]
  • Sven Ewert: "Brücken. Die Entwicklung der Spannweiten und Systeme" [Berlin 2003]
  • David J. Brown: "Brücken - Kühne Konstruktionen über Flüsse, Täler, Meere" [München 2005]
  • Karl-Eugen Kurrer: "Geschichte der Baustatik - Auf der Suche nach dem Gleichgewicht" [Berlin 2016]
  • structurae.de

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