© Bernd Nebel
Mitte des 19. Jahrhunderts erhielt der Brückenbau in ganz Europa durch die rasante Expansion der Eisenbahn beträchtliche Impulse. Das Schienennetz wurde in alle Richtungen zügig ausgebaut und es galt immer wieder kleinere und größere Hindernisse zu überwinden. Parallel mit dem Ausbau der Eisenbahnnetze wurden auch die Loks ständig weiterentwickelt, so dass sie immer schneller und schwerer wurden. Zwei entscheidende Eingangsgrößen für die Konstruktion dauerhafter, stabiler Brücken.
Auch in Schottland konkurrierten zu dieser Zeit mehrere Eisenbahngesellschaften bei der Erschließung des Landes. Um die nördlichen Landesteile besser an den aufstrebenden Süden anzuschließen, wurde es erforderlich eine möglichst kurze Verbindung zwischen den Städten Dundee im Norden, sowie Edinburgh und Glasgow im Süden herzustellen. Zwei mächtige Hindernisse stellen sich dieser Strecke in den Weg: der Firth of Forth bei Edinburgh, sowie der Firth of Tay bei Dundee. Das Wort "Firth" bezeichnet übrigens einen Meeresarm, in Skandinavien auch Fjord genannt. Um die beiden Hindernisse zu überwinden schlossen sich gleich mehrere Eisenbahngesellschaften zusammen und forderten die besten Ingenieure ihrer Zeit auf, entsprechende Vorschläge einzureichen.
Errichtung eines Pfeilers auf dem Caisson (1885)
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Zunächst wurde die Eisenbahnbrücke über den Firth of Tay in Angriff genommen. Den Auftrag dafür erhielt Sir Thomas Bouch, der zuvor schon viele Brücken für die Eisenbahngesellschaften gebaut hatte und als erste Wahl für ein solches Projekt galt. Die Brücke wurde 1877 fertig gestellt und ihr Konstrukteur auf Grund dieser herausragenden Leistung zum Ritter geschlagen. Was lag also näher, als die etwas weiter südlich geplante Überbrückung des Firth of Forth ebenfalls in die bewährten Hände von Thomas Bouch zu geben? Bouch legte einen Entwurf für eine doppelte Hängebrücke mit zwei Hauptspannweiten von jeweils 500 m Länge vor und erhielt den Auftrag. Aufgrund der Wassertiefe von bis zu 60 m konnte er keine Brücke wie am Tay bauen, sondern musste auf ein System ausweichen, mit dem eine solche Spannweite zu realisieren war.
Als Standort für die Brücke entschied er sich für eine Stelle etwa 14 km westlich von Edinburgh, weil er hier eine kleine Insel namens Inchgarvie für die beiden Mittelpfeiler nutzen konnte. Im Herbst und Winter 1879 war Bouch bereits mit vorbereitenden Arbeiten an der Brücke beschäftigt. Er hatte schon ein kleineres Fundament fertig gestellt, als am 28. Dezember 1879 das unvorstellbare geschah: in einem heftigen Sturm stürzte die Tay-Brücke unter einem vollbesetzten Zug ein und riss 75 Menschen mit in den Tod. Es wurde eine ausführliche Untersuchung der Katastrophe angeordnet, die Thomas Bouch eine erhebliche Mitschuld am Einsturz der Brücke bescheinigte. Das war das plötzliche Ende einer bis dahin makellosen Brückenbauerkarriere und natürlich wurde Bouch auch der Auftrag für den Bau der Forth-Brücke umgehend entzogen.
links: Sir Benjamin Baker (1840 - 1907); rechts: Sir John Fowler (1817 - 1898)
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Daraufhin schrieben die beteiligten Eisenbahngesellschaften den Entwurf für die Forth Brücke zum zweiten Mal aus. Bei diesem neuerlichen Wettbewerb hatten Hängebrücken offensichtlich keine Chance, weil Bouch ja eine solche bauen wollte und dessen letzte Brücke (allerdings keine Hängebrücke) eingestürzt war.
Nach jedem Brückeneinsturz wurden in der Regel Untersuchungen angeordnet, durch welche die Ingenieure immer viel gelernt haben und aus denen sie neue Erkenntnisse für spätere Projekte bezogen. Für den Bau der Firth of Forth Eisenbahnbrücke war der Einsturz der zeitlich und räumlich in unmittelbarer Nähe liegenden Taybrücke jedoch mehr als nur ein Desaster aus dem man seine Lehren zog. Diesmal ging es um mehr: vor allem darum, den Menschen wieder das Vertrauen in die Eisenbahn und solch weit gespannte Brücken zurück zu geben. Man kann sich heute kaum noch vorstellen, wie die Planungen, der Baufortschritt und jede Maßnahme der Ingenieure auf der Baustelle von der Öffentlichkeit argwöhnisch beobachtet wurden.
Da eine Hängebrücke ausschied, rückte ein gemeinsamer Vorschlag von zwei britischen Ingenieuren ins Rampenlicht, der eine gewaltige Auslegerbrücke vorsah, die schon auf den Zeichnungen keinen Zweifel an ihrer Stabilität aufkommen liess. Benjamin Baker und John Fowler erhielten den Zuschlag für ihren Entwurf, der dann an der gleichen Stelle verwirklicht wurde, wie Bouchs Pläne es vorgesehen hatten. John Fowler war ein sehr erfahrener Ingenieur, der schon beim Bau vieler Eisenbahnstrecken maßgeblich beteiligt war. Bei Baubeginn war er fast 60 Jahre alt, während Benjamin Baker deutlich jünger war.
Historische Demonstration des Auslegerprinzips Illustration aus der britischen Zeitschrift "Engineer" |
Zu den "Vertrauen bildenden Maßnahmen" der Konstrukteure gehörte auch eine öffentliche Demonstration des Auslegerprinzips, von der es auch historische Fotoaufnahmen gibt. Zwei Mitarbeiter von Fowler und Baker haben dank der Gegengewichte in Form von aufgestapelten Backsteinen keinerlei Mühe, einen weiteren Mann zwischen den "Auslegern" zu tragen. Als symbolische Verneigung vor der asiatischen Herkunft der Auslegerbrücken plazierte Baker seinen Mitarbeiter, den japanischen Ingenieur Kaichi Watanabe, in der Mitte der Versuchsanordnung.
Die beiden Ingenieure planten eine Auslegerbrücke mit drei wuchtigen Pfeilern, zwischen die zwei 107 m lange Gerberträger eingehängt wurden. Bei diesem nach dem deutschen Ingenieur Heinrich Gerber benannten System wird der relativ kurze Träger mit Gelenken zwischen den Auslegern befestigt. Dadurch erhält man ein statisch bestimmtes System, bei dem der Kräfteverlauf im Bauwerk besser zu berechnen ist. Unterschiedliche Setzungen der Fundamente führen dann nicht gleich zu Beschädigungen, weil sie durch die Gelenke ausgeglichen werden können. Auslegerbrücken dieser Größenordnung waren vorher natürlich noch nirgendwo gebaut worden aber die Firth of Forth Brücke verhalf dem Gerberträger schließlich zum internationalen Durchbruch.
Die Bauarbeiten für die Forth Brücke begannen also zum zweiten Mal im Jahre 1882 mit den Fundamenten für die Ausleger. Zum Chefingenieur auf der Baustelle wurde der junge William Arrol bestellt. Obwohl sie größtenteils in Ufernähe bzw. auf der Insel Inchgarvie ausgeführt werden konnten, musste die Hälfte der 12 Fundamentpfeiler im Druckluftverfahren gegründet werden. Die restlichen Pfeiler wurden in offener Bauweise mit Hilfe von Kastendämmen gegründet.
Die Türme wachsen in den Himmel
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Mit den Druckluftgründungen wurde Louis Coiseau beauftragt, ein erfahrener Spezialist für solche Aufgaben, der bereits bei vielen Hafenanlagen und dem Bau des Suezkanals mitgewirkt hatte. Die Durchmesser der kreisrunden Caissons betrugen bis zu 21 m in denen maximal 27 Arbeiter damit beschäftigt waren, sich langsam nach unten zu graben. Nach dem Erreichen tragfähigen Untergrundes wurde der gesamte Caisson mit Beton verfüllt. Es war eine monatelange, außerordentlich anstrengende Arbeit, denn die Druckluftkästen mussten bis zu 30 m unter die Wasseroberfläche getrieben werden.
Neben der Wahl des Brückensystems führten die negativen Erfahrungen am Tay zu einer ständigen Überprüfung aller technischen Lösungen und Bauverfahren. Während Bouch noch das spröde Gusseisen verwendet hatte, machte man sich nun den gerade erst entwickelten Siemens-Martin-Stahl zunutze. Ein Baustoff mit wesentlich besseren Eigenschaften, besonders hinsichtlich seiner Zug- und Biegefestigkeit. Aber auch was die Lastannahmen angeht hatte man aus den früheren Fehlern gelernt.
Eine der Hauptursachen für die Katastrophe am Tay waren die völlig unterschätzten Windkräfte gewesen, weil Bouch bei deren Ansatz auf über 100 Jahre alte Tabellen zurückgegriffen hatte. Die Wetterverhältnisse am Firth of Forth sind natürlich ganz ähnlich und daher musste dieser Frage besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Da es zu dieser Zeit aber keine genaueren Lastannahmen für seitlichen Winddruck gab, mussten sich Fowler und Baker etwas anderes einfallen lassen. Dabei bewiesen sie ein hohes Maß an Einfallsreichtum und ingenieurtechnischem Geschick. Auf Inchgarvie befand sich an einer exponierten Stelle eine kleine Holzhütte, an deren Nordost-Seite seit vielen Jahren eine Fensterscheibe den heftigsten Stürmen getrotzt hatte. Diese Glasscheibe baute man aus und belastete sie in einem horizontalen Versuchsaufbau mit einer langsam zunehmenden Menge Sand. Als die Scheibe schließlich brach, hatte man eine Drucklast ermittelt, die offensichtlich noch niemals auf diese Scheibe eingewirkt hatte. Mit Hilfe dieses Versuches konnten dann entsprechende Lastannahmen für die zu berücksichtigenden Windkräfte getroffen werden.
Blick aus dem Stahlgewirr auf einen der Pfeiler © Bernhard Niespodziany |
Nach den Erfahrungen am Tay versuchten die Konstrukteure ein größtmögliches Maß an Sicherheit zu gewährleisten. Und das sieht man auch: die Brücke wurde unglaublich wuchtig und massiv. Auf manchen Fotos wirkt sie wie eine Gruppe Dinosaurier, die im Gänsemarsch durch den Forth watet. Aus heutiger Sicht ist die Brücke deutlich überdimensioniert, denn mit modernen Berechnungsmethoden ergibt sich eine fünffache statische Sicherheit, während heute im Allgemeinen mit einer 2 ½-fachen Sicherheit kalkuliert wird.
Aus Gleichgewichtsgründen wurden die Ausleger von den 105 m hohen Türmen ausgehend in beide Richtungen gleichzeitig montiert. Die besonders beeindruckenden Untergurte bestehen aus gebogenen Stahlblechen und haben Außendurchmesser von 3,66 m. Insgesamt wurden ca. 50.000 Tonnen Stahl benötigt, der durch ca. 6,5 Millionen Niete miteinander verbunden ist. Das gesamte Brückenbauwerk ist ca. 2,46 km lang. Aus Richtung Süden kommend erreichen die Züge die Hauptbrücke erst, nachdem sie einen fast 1,5 km langen Viadukt überquert haben. Die freie Durchfahrtshöhe für die Wasserstraße beträgt 46 m, noch heute für die meisten Schiffe ausreichend.
Wie der Gedenkstein für die getöteten Arbeiter zeigt, wurden bereits 13-jährige als Nietfänger eingesetzt. David Clark hat dies nicht überlebt. © Bernd Nebel |
Nach über siebenjähriger Bauzeit konnte die Brücke im Mai 1889 fertig gestellt werden. Der erste Anstrich, die Gleisarbeiten und Fertigstellung der Sicherheitseinrichtungen benötigten weitere neun Monate. Zu Spitzenzeiten waren etwa 4.500 Arbeiter gleichzeitig auf der Baustelle beschäftigt. Sie kamen nicht nur aus Schottland, sondern auch aus Irland, Wales und England. Für die Arbeiten im Caisson hatte man auch Franzosen, Italiener und Deutsche engagiert. Für die damalige Zeit war es also durchaus ein internationales oder eben 'europäisches' Projekt. Aus heutiger Perspektive kaum nachvollziehbar ist hingegen die Beschäftigung von vielen Halbwüchsigen, die vor allem bei den Nietarbeiten eingesetzt wurden. Sicherheitsvorschriften waren weitgehend unbekannt und Schutzhelme oder Absturzsicherungen gab es nicht.
So verwundert es nicht, dass nach neueren Untersuchungen insgesamt 63 Arbeiter bei den Bauarbeiten zu Tode kamen, darunter sieben jugendliche Niethelfer im Alter zwischen 13 und 16 Jahren. Die Niete wurden an logistisch günstigen Stellen im schon vorhandenen Teil des Trägers mit Hilfe von ölbetriebenen Öfen weißglühend erhitzt. Damit sie möglichst schnell an ihren Bestimmungsort kamen, wurden sie von einem "rivet thrower" mit einer Zange geworfen und von einem "rivet catcher" mit einem ledernen Trichter aufgefangen. Dies alles muss man sich in schwindelerregender Höhe, zugiger Kälte und bei teilweise schlechten Sichtverhältnissen vorstellen. Viele Niete verfehlten den Auffangtrichter und fielen ins Wasser. Neben der Gefahr, die von einem durch die Luft fliegenden, rot glüchenden Eisenniet ausgeht, gab es für die Jungs die diesen Job zu erledigen hatten, dann sicherlich heftige Vorwürfe, weil jeder Niet auch ein Kostenfaktor war. Wie man historischen Berichten entnehmen kann, hielt man die Zahl der Todesopfer bei einem Projekt dieser Größenordnung aber durchaus für normal und angesichts des letztendlichen Erfolgs für vertretbar.
Die Firth of Forth Eisenbahnbrücke galt schon zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung als wahres Wunder der Technik und lockte bei ihrer Einweihungsfeier viele Prominente aus Politik und Gesellschaft an. Auch ein anderer großer Brückenbauer, Gustave Eiffel, ließ sich dieses Ereignis nicht entgehen. Am 3. März 1890 wurde das Bauwerk offiziel vom Prinzen von Wales eingeweiht, der mit Hilfe von Arrol den letzten (vergoldeten) Niet setzte. Alles in allem kostete die Brücke ca. 3,5 Millionen Pfund, die sich jedoch als gut angelegt erweisen sollten.
Größenvergleich der Firth of Forth Bridge mit dem Eiffelturm © Allgemeine Bauzeitung Wien, 1890 |
Das Bauwerk wurde sowohl in ökonomischer, als auch in technischer Hinsicht ein großer Erfolg und konnte viele Superlative für sich verbuchen. Bei ihrer Fertigstellung war sie die Brücke mit der größten Spannweite der Welt und hielt diesen Rekord bis zur Vollendung der Quebec Brücke in Kanada im Jahre 1918. Seit 1964 in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft eine neue Straßenbrücke über den Forth errichtet wurde, geniesst sie nicht mehr die ungeteilte Aufmerksamkeit der Brückenfreunde. Die Fachwerkträger-Hängebrücke hat eine Spannweite von 1.006 m und ist heute schon so stark ausgelastet, dass mittlerweile über eine dritte Forthbrücke nachgedacht wird.
Die Forth Railroad Bridge liegt auch heute noch auf der Haupteisenbahnlinie zwischen Edinburgh und Dundee und wird -obwohl die Schienenfahrzeuge inzwischen deutlich schwerer geworden sind- täglich von ca. 130 Zügen überquert. Auch über 120 Jahre nach ihrer Entstehung ist die Firth of Forth Bridge eine der eindrucksvollsten Brücken der Welt und bietet sowohl bei Tag, als auch beleuchtet bei Nacht, einen imposanten Anblick.
Der Morgennebel lichtet sich über dem Forth © Paul-Christian Max |
Erst vor kurzem wurden alle Teile der Brücke in einer mehrjährigen Sanierung unter vollem Verkehr grundlegend überprüft, erforderlichenfalls repariert und anschließend mit einem mehrschichtigen Schutzanstrich versehen. Vorher musste die alte Farbe der Brücke komplett durch Sandstrahlen entfernt und das Strahlgut wegen der bleihaltigen Anteile abgesaugt und entsorgt werden. Die typische rotbraune Farbe der Brücke namens "Forth Bridge Red" wurde bei dem neuen Schutzanstrich natürlich beibehalten. Rund 280.000 qm Gesamtfläche mussten auf diese Weise neu beschichtet werden. "To paint the Forth Bridge" ist in Schottland übrigens ein Synonym für eine niemals enden wollende Herkulesarbeit.
Bei der Sanierung wurden alle Bauteile ausführlich auf ihre Tragfähigkeit auf Rostbefall überprüft. Wo erforderlich wurden einzelne Bauteile ausgetauscht. Wegen der unterschiedlichen Stahlqualitäten von damals und heute, konnten die Ersatzteile aber nicht angeschweißt werden, sondern wurden wie früher genietet. Im Laufe der Sanierungsarbeiten wurde auch festgestellt, dass sich die Fundamente der Brücke um keinen Millimeter gesetzt haben, was wiederum die außergewöhnliche Stabilität der Brücke unter Beweis stellt. Nach Abschluss der aufwändigen Sanierung, die ein schottisches Tochterunternehmen der ThyssenKrupp Services durchführte, wird die Brücke sicherlich noch viele weitere Jahre den Eisenbahnverkehr über den Forth tragen.