© Sigurd Reilbach
Etwa auf halber Strecke zwischen Clermont-Ferrand und Montpellier befindet sich das Städtchen Millau, das trotz seiner geringen Größe früher jedem Franzosen durch die Verkehrsnachrichten im Radio bekannt war. In diesem eigentlich so idyllischen Tal spielte sich alljährlich während der Urlaubszeit eines der typischen Dramen des Automobilzeitalters ab.
Sobald die französischen Sommerferien begonnen hatten, strömten Millionen von Urlaubern In Frankreich finden die Sommerferien traditionell in allen Regionen des Landes gleichzeitig statt. an die Küste des Mittelmeeres . Eine der Hauptverkehrsadern Richtung Süden ist die A75, die damals bei Millau aber eine mehrere Kilometer lange Unterbrechung hatte. Der Grund dafür war das tiefe Tal des Flusses Tarn, für das man bis dahin noch kein schlüssiges Verkehrskonzept gefunden hatte. Also mussten sämtliche Verkehrsteilnehmer am Ende der Autobahn auf die Landstraße wechseln und sich mühevoll die Serpentinen hinunter- und auf der anderen Seite wieder hinaufquälen. Im Talkessel lag das Örtchen Millau, dessen Einwohner nicht nur während der Ferienzeit unter diesen Zuständen zu leiden hatten.
Blick vom Kran in die komplizierte Schalung eines Pfeilers © PERI |
Jeder der schon einmal mit seiner Familie zu den Hauptreisezeiten mit dem Auto unterwegs war, kann sich die entnervten Fahrer mit ihren ungeduldigen Kindern auf dem Rücksitz sicher gut vorstellen. Zahlreiche Unfälle innerhalb dieser endlosen Blechkarawane führten manchmal zu 50 km langen Staus, die mit stundenlangen Wartezeiten verbunden waren. Da die A75 aber ohnehin eine der Hauptstrecken Frankreichs in Nord-Süd-Richtung ist, kam es rund um Millau auch außerhalb der Ferienzeiten immer wieder zum Verkehrskollaps.
Doch damit war es dann Ende 2004 endgültig vorbei, als Staatspräsident Jacques Chirac den Viaduc de Millau offiziell dem Verkehr übergab. Diese Brücke bricht zwar keine Spannweitenrekorde, dennoch ist sie in vielerlei Hinsicht ein Bauwerk der Superlative und alles andere als eine gewöhnliche Talbrücke.
Erste Überlegungen für den Lückenschluss der A75 gehen auf das Jahr 1987 zurück, wobei verschiedene Lösungen untersucht wurden. U.a. wurde eine Balkenbrücke mit relativ kleinen Spannweiten vorgeschlagen, die jedoch eine große Anzahl von Pfeilern mit enormer Höhe erfordert hätte. Im Rahmen eines Ideenwettbewerbs setzte sich dann aber der Entwurf einer schlanken Multischrägseilbrücke mit Spannweiten von 6 x 342 m durch. Dadurch konnte die Anzahl der erforderlichen Stützen im Tal gegenüber der Balkenbrücke deutlich reduziert werden. Der Unterbau der insgesamt 2.460 m langen Brücke besteht aus sieben hintereinander platzierten und sehr ungewöhnlich gestalteten Pfeilern. Der siegreiche Entwurf stammte vom Büro des französischen Ingenieurs Michel Virlogeux, Auch an der 2016 vollendeten Yavuz-Sultan-Selim-Brücke in Istanbul, war Michel Virlogeux maßgeblich beteiligt. welches u.a. schon den Pont de Normandie geplant hatte.
Es war von vornherein klar, dass die Talbrücke derartige Dimensionen haben würde, dass eine wesentliche Veränderung des Landschaftsbildes unvermeidlich war. Um die Auswirkungen so gering wie möglich zu halten, bzw. zumindest die Akzeptanz in der Bevölkerung zu erhöhen, engagierte man neben Virlogeux auch den englischen Stararchitekten Sir Norman Foster, der u.a. schon die Millennium Bridge in London und die Kuppel des Berliner Reichstages gestaltet hatte. Foster ist vor allem die originelle aber auch technisch komplexe Form der Pylonen zuzuschreiben.
Der letzte Pylon wird mit einem Spezialgerät aufgerichtet © Compagnie Eiffage du Viaduc de Millau |
Die Anforderungen an eine Brücke an dieser Stelle waren enorm, denn das Tal der Tarn ist sehr breit und vor allem sehr tief. Dadurch wurde die Brücke in ihren Gesamtdimensionen wahrhaft gigantisch: der größte Pylon, der bei seiner Fertigstellung gleichzeitig auch der höchste der Welt war, hat eine Höhe von 343 m und ist damit 19 m höher als der Eiffelturm. Die Fahrbahn befindet sich 270 m über dem Wasserspiegel des Tarn und wurde damals nur noch von der im Jahre 1929 fertig gestellten Royal Gorge Bridge in Canyon City (USA) übertroffen, die mit einer Höhe von 321 m über dem Arkansas River aufwarten kann. Der Viaduc de Millau war bei seiner Eröffnung aber die höchste Autobahnbrücke der Welt, denn bei der Royal Gorge Bridge handelt es sich um eine leichte, nur etwa fünf Meter breite Fußgängerbrücke.
Die Bauarbeiten begannen im Oktober 2001 mit den Gründungsarbeiten für die sieben Pfeiler und die Widerlager. Da alle Gründungen "auf dem Trockenen" ausgeführt werden konnten, gab es hier noch keine größeren Schwierigkeiten zu überwinden. Die Pfeiler stehen auf jeweils ca. 200 m² großen Fundamenten, welche durch vier Gründungspfähle bis zu 15 m tief im Fels verankert sind. Um Zeit zu sparen, wurde mit den Betonarbeiten an allen Pfeilern gleichzeitig begonnen. Dabei war die größte technische Herausforderung die Schalung.
Die Pfeiler bestehen vom Fundament bis zur Unterkante des Überbaus aus Spannbeton und sind zwischen 78 und 245 m hoch. Oberhalb der Fahrbahn setzen sich die Pfeiler optisch als Pylonen fort, an denen die Schrägseile befestigt sind. Die Pylonen bestehen aus Stahl und ragen 89 m über die Fahrbahn hinaus. Bei der Frontalansicht des Bauwerkes entsteht dadurch der gewollte Eindruck, Pfeiler und Pylon seien eine Einheit.
Die anspruchsvolle Gestaltung der Pfeiler verlangte eine speziell entwickelte Kletterschalung, mit der die wechselnden Querschnitte betoniert werden konnten. Vom Fundament ausgehend verjüngen sich die Pfeiler nach oben hin, bis sie sich ca. 90 m unterhalb des Fahrbahnträgers wie eine Stimmgabel aufweiten. Die geteilte Auflagefläche für den Überbau beträgt dann pro Pfeiler noch ca. 30 m². Beim höchsten Pfeiler beginnt die Aufweitung des Betonschaftes in einer Höhe von 165 m, während sie beim niedrigsten Pfeiler direkt über dem Fundament ansetzt. Das Spezialunternehmen PERI aus der Nähe von Ulm lieferte verstellbare Schalungen und komplizierte Sonderanfertigungen, mit deren Hilfe es möglich war, in einem dreitägigen Rhythmus Abschnitte von jeweils vier Metern Höhe zu betonieren.
Michel Virlogeux
wurde 1946 in La Fleche / Frankreich geboren. Virlogeux studierte Ingenieur- wissenschaften an der Ecole Polytechnique in Paris und promovierte anschließend an der ebenso renommierten 'Pierre et Marie Curie University' (1973). Seine erste Anstellung fand er im französischen Staatsdienst, bei der Straßenbauverwaltung SETRA, wo er bis 1994 arbeitete. Spätestens hier erkannte er seine besondere Leidenschaft für den Brückenbau und konnte seine Fähigkeiten bereits bei einigen spektakulären Projekten unter Beweis stellen. Nachdem er den Staatsdienst verlassen hatte, gründete er sein eigenes Büro und wandte sich vollends dem Brückenbau zu. In den kommenden Jahrzehnten war er immer wieder an bedeutenden Brückenprojekten in ganz Europa beteiligt. Neben viele anderen Auszeichnungen die er für seine Arbeiten erhielt, war er auch der erste Träger des Fritz-Leonhardt-Preises (1999). Die bekanntesten Brücken an denen Virlogeux in der einen oder anderen Funktion beteiligt war, sind der Pont de Normandie (1995), die Vasco da Gama Brücke in Lissabon (1998), der Viaduc de Millau (2004) und die Yavuz-Sultan-Selim-Brücke in Istanbul (2016). |
Auch der Träger der Brücke sollte zunächst aus Spannbeton hergestellt werden. Wegen des geringeren Eigengewichtes (und der Funktion der Brücke als Referenzobjekt der französischen Stahlindustrie) entschied man sich dann jedoch, die gesamte Konstruktion aus Stahlfertigteilen zu schweißen. Mit der Herstellung des Überbaus wurde die Fa. "Eiffel Construction Metallique" betraut, die auf ihren Gründer Gustave Eiffel zurückgeht. Durch die Ausführung in Stahl konnte die Konstruktionshöhe des Fahrbahnträgers auf 4,20 Meter reduziert und das Eigengewicht auf 1/10 eines vergleichbaren Betonträgers begrenzt werden. Auch optisch wirkt die ganze Brücke über dem Tal dadurch wesentlich leichter und eleganter.
In verschiedener Hinsicht ging man in Millau, im Vergleich zum klassischen Schrägseilbrückenbau, ganz neue Wege. Bis dahin wurde der Fahrbahnträger normalerweise vom Pylon aus in beide Richtungen gleichzeitig im freien Vorbau montiert. Dabei wurde jedes Trägersegment sofort mit den Schrägseilen am Pylon befestigt. Beim Viaduc de Millau hingegen wendete man erstmalig eine Art Taktschiebeverfahren an, wie es eigentlich vom Spannbetonbau bekannt ist.
Der Herstellungsprozess der Trägerabschnitte begann bei der Dillinger Hütte im Saarland, mit dem Walzen der bis zu 120 mm starken Bleche und anschließendem Schiffstransport nach Frankreich. In mehreren Arbeitsschritten wurden die Bleche an verschiedenen Orten Frankreichs zu immer größeren Einheiten zusammengeschweißt, bis schließlich an den beiden Widerlagern der Baustelle in Millau die Endmontage der Segmente erfolgen konnte.
Jedes der acht Fahrbahnsegmente ist 351 m lang und besteht aus einem 32 m breiten und 4,20 m hohen Hohlkastenprofil. Die beiden mittleren Pylonen wurden am Werkplatz beim Widerlager samt Schrägseilen auf den Segmenten vormontiert. Nach Fertigstellung eines Segments wurde der gesamte vorhandene Überbau mit gewaltigen hydraulischen Pressen und unter Verwendung von Hilfsstützen in Richtung Talmitte verschoben. Dies geschah von beiden Seiten aus gleichzeitig, bis sich die beiden Enden am 28. Mai 2004 über dem Tal trafen und miteinander verschweißt werden konnten.
Der stählerne Pylon und der Pfeiler aus Stahlbeton wirken aus der Ferne wie eine Einheit. © Hartmut Mühlberg |
Durch diese Konstruktionsweise wurde ein sehr hoher Vorfertigungsgrad erzielt und der größte Teil der Stahlarbeiten konnte auf festem Boden durchgeführt werden. Dies hat nicht nur Vorteile hinsichtlich der Bauzeit und der Kosten, sondern auch in Sachen Unfallverhütung.
Nach dem Schließen der letzten Lücke des Überbaus konnten die restlichen fünf Pylonen errichtet und die Schrägseile gespannt werden. Die vorgefertigten Stahlpylonen wurden liegend zum Bestimmungsort gebracht und dann mit einem Spezialgerät aufgerichtet. Erst danach konnten die Hilfsstützen beseitigt werden, die während der Montage des Überbaus die gleiche Last zu tragen hatten wie danach die Betonpfeiler. Von jedem der sieben Pylonen gehen jeweils 11 Kabel pro Richtung aus, so dass insgesamt 154 Kabel zu montieren waren.
Der Viaduc de Millau hat eine Gesamtlänge von 2.460 m, die sich auf Spannweiten von 2 x 204 m an den Widerlagern und 6 x 342 m zwischen den Pylonen verteilen. Der Träger bietet ausreichend Platz für insgesamt sechs Spuren (pro Richtung zwei Fahrspuren plus ein Standstreifen). Die Brücke befindet sich an einer sehr windexponierten Stelle, was besondere Maßnahmen zum Schutz vor allem großer Fahrzeuge notwendig machte. Das gesamte Bauwerk ist auf Windgeschwindigkeiten bis zu 245 km/h ausgelegt. Damit die Brücke möglichst selten bei Seitenwind gesperrt werden muss, wurden auf beiden Seiten der Fahrbahn ca. 3 m hohe Windabweiser angebracht. Diese wurden aus durchsichtigen Kunststoffelementen hergestellt, die während der Überfahrt die grandiose Aussicht in das Tal nicht völlig versperren.
Querschnitt durch den aerodynamischen Fahrbahnträger. Ganz außen die durchsichtigen Windabweiser.
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Der Bau des Viaduc de Millau war ein kompliziertes Bauvorhaben, bei dem viele Abläufe, teilweise über Ländergrenzen hinaus, exakt aufeinander abgestimmt werden mussten. Trotz mancher Schwierigkeiten gelang es den Zeitplan exakt einzuhalten und die Brücke noch Ende 2004 in Betrieb zu nehmen.
Und auch die Kosten blieben einigermaßen im Rahmen: 350 Millionen Euro hatte man kalkuliert und 400 Millionen waren es nach der Schlussrechnung tatsächlich. Gerade in der letzten Zeit hat man da schon von deutlich größeren Kostenüberschreitungen gehört! Das Beispiel des Viaduc de Millau macht deutlich, dass ein solches Mammutprojekt bei vernünftiger Kalkulation und mit einer guten Bauüberwachung durch den Auftraggeber, durchaus im vorgegebenen Kosten- und Zeitrahmen ausführbar ist.
Dennoch ist der Viaduc de Millau eine gewaltige Investition in die Zukunft. Die gesamten Baukosten mussten zunächst einmal von der eigens gegründeten Gesellschaft "Compagnie Eiffage du Viaduc de Millau" vorfinanziert werden. Im Gegenzug darf die Gesellschaft während der ersten 75 Betriebsjahre Also bis zum Jahr 2080. die Mautgebühren vereinnahmen. Danach werden die Nutzungsrechte und damit auch die Mauteinnahmen an den französischen Staat zurückfallen. Da das Baukonsortium vertraglich eine Lebensdauer der Brücke von mindestens 120 Jahren garantiert, wird sich der Bau der Brücke eines Tages auch für den französischen Finanzminister auszahlen.
Die Fahrt über die Brücke ist ein beeindruckendes Erlebnis. © Stephan Mettauer |
Etwa vier Kilometer nördlich der Brücke wurde eine große Mautstation eingerichtet, an der für beide Fahrtrichtungen die Gebühr zu bezahlen ist. Die anfängliche Mautgebühr betrug für einen normalen PKW im Sommer 6,50 € und während des restlichen Jahres 4,90 €. Im Vergleich zu anderen europäischen Großbrücken, wie z.B. der Store Baelt Brücke in Dänemark, ist sie somit eher preiswert. Die aktuellen Gebühren für alle Fahrzeugarten finden Sie hier:
http://www.leviaducdemillau.com
Wie jedes Projekt dieser Größenordnung war natürlich auch der Viaduc de Millau im Vorfeld keineswegs unumstritten. Ökologisch orientierte Lokalpolitiker sahen in der Architektur Fosters gar ein "größenwahnsinniges Vorhaben pharaonischen Ausmaßes". Ob die Integration der Brücke in ihre natürliche Umgebung gestalterisch gelungen ist, muss jeder für sich selbst entscheiden.
Für die ehemals geplagten Bürger Millaus und die zahlreichen Urlauber aus dem Norden dürften die Vorteile allerdings auf der Hand liegen.