© Carsten Grahn
Ende des 19. Jahrhunderts gehörte England zu den am weitesten entwickelten Ländern der Erde. Entsprechend schnell expandierte auch die Hauptstadt an den Ufern der Themse. Zwischen 1870 und 1900 stieg Londons Einwohnerzahl mit jedem Jahrzehnt um eine Million Menschen, mit allen erdenklichen Folgen sozialer und wirtschaftlicher Art. Die Versorgung der vielen Bürger verlangte ein weitverzweigtes Verkehrsnetz, wobei viele Waren auf der Themse in die Stadt kamen.
Auch am Eastend hatte sich die Stadt so weit ausdehnt, dass für viele Bürger und Händler die Wege über den Fluss immer weiter wurden. Zwar gab es mehrere Brücken über die Themse und seit 1843 sogar einen Tunnel, Der Themsetunnel von Marc Isambard Brunel war weltweit der erste vollendete Tunnel, der unter einem Fluss hindurch führte. aber alle diese Verkehrswege befanden sich dicht am Zentrum der Stadt. Um 1875 war die am weitesten östlich gelegene Brücke die London Bridge, die 1832 von John Rennie erneuert worden war. Aber auch sie war schon mehr als einen Kilometer vom Stadtrand entfernt war.
Joseph Bazalgettes alternative Vorschläge. Von oben nach unten: Gitterträger (Balkenbrücke), Auslegerbrücke, Bogenbrücke.
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Es musste also eine weitere Themsequerung in der Nähe des Towers geschaffen werden, die aber nicht bei allen auf Zustimmung stieß. Da es zu dieser Zeit noch einen Stadthafen zwischen der London Bridge und dem Tower gab, herrschte auf diesem Abschnitt der Themse reger Schiffsverkehr, teilweise schon mit Dampfbooten aber auch noch mit vielen Segelschiffen. Es musste daher eine Lösung gefunden werden, die den Schiffsverkehr möglichst wenig behinderte und das hätte durchaus auch ein weiterer Tunnel sein können. Die Alternative war eine Brücke mit entsprechender Durchfahrtshöhe, oder einem beweglichen Mittelstück, damit Schiffe mit stehenden Masten oder hohen Schornsteinen hindurchfahren konnten.
1876 wurde ein Wettbewerb für eine Brücke ausgeschrieben, die für alle Straßenfahrzeuge der damaligen Zeit geeignet sein sollte. Unter den mehr als 50 eingereichten Vorschlägen befanden sich alle Brückenarten, die nach damaligem Stand der Technik denkbar waren: Gitterträger, Eisenbögen, Auslegerbrücken und auch verschiedene bewegliche Systeme. Einer der sich zurecht große Hoffnungen auf den Zuschlag machte, war Sir Joseph Bazalgette, Joseph Bazalgette (1810 - 1891) war ab 1858 Leiter des neu gegründeten Bauamtes der Stadt London der in London als höchste Instanz für alle Fragen des Tiefbaus galt. Er hatte schon mehrere Brücken über die Themse errichtet, darunter die Hammersmith Bridge und die Battersea Bridge. Zum Helden der Stadt wurde er jedoch durch den Bau des ersten Abwassersystems (1865), mit dessen Hilfe die Cholera aus der Stadt verbannt werden konnte.
Bazalgette legte drei Alternativen für die Tower Bridge vor, eine Bogenbrücke, eine Auslegerbrücke und einen Gitterträger, der eine gewisse Ähnlichkeit mit der Alten Weichselbrücke in Dirschau hatte (1857). In architektonischer Hinsicht schien aus heutiger Sicht besonders der Bogen gelungen zu sein, der eine ausreichende Höhe für die Schifffahrt vorsah. Zunächst konnten sich die Abgeordneten der City of London aber für keinen der eingereichten Vorschläge entscheiden. Es ist nicht ganz klar, worin das Problem bestand, aber das Verfahren ruhte nun ganze acht Jahre lang, bis wieder Bewegung in die Sache kam.
Das Stahlgerippe der Türme wächst aufeinander zu
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Überraschenderweise wurde dann ein Vorschlag mit einer Klappbrücke von Horace Jones (1819 - 1887) angenommen, der zu dieser Zeit Stadtbaumeister von London war und in dieser Funktion natürlich auch selbst in der Kommission gesessen hatte. Unglücklicherweise verstarb Jones aber einen Monat vor der Grundsteinlegung durch Prinz Eduard, sodass seine Mitarbeiter und Stellvertreter John Wolfe-Barry und George D. Stevenson Nicht zu verwechseln mit dem Eisenbahnpionier George Stephenson (1781 - 1848) nachrückten. Obwohl Wolfe Barry dem Bauwerk durchaus noch seinen Stempel aufdrücken konnte, stammt die heute etwas befremdlich anmutende Gestaltung Der an die Architektur des nahegelegenen Towers of London angelehnte Baustil heißt in Großbritannien 'Baronial Style'. doch in erster Linie von Horace Jones. Dabei ließ er sich offenbar zuallererst von dem Gedanken leiten, die Brücke müsse in Baustil und Material genau zum wuchtigen Tower of London passen. Nur vor diesem Hintergrund ist die trutzige Architektur halbwegs nachvollziehbar, die nach außen hin etwas ganz anderes vorgibt, als sie in ihrem Inneren ist.
Die Bauarbeiten wurden in fünf Abschnitten zum öffentlichen Wettbewerb ausgeschrieben. Einer der Auftragnehmer war der Schotte Sir William Arrol mit seiner Stahlbaufirma, der kurz zuvor die eingestürzte Taybrücke ersetzt hatte und zu dieser Zeit bereits an der Firth of Forth Bridge arbeitete. Der technisch anspruchsvollste Teil der Bauarbeiten war die Fundamentierung auf dem Grunde der Themse, mit der 1886 begonnen wurde. Dafür mussten zwei vorgefertigte Caissons mit insgesamt 70.000 Tonnen Beton im Fluss versenkt werden. Die beiden Türme der Tower Bridge bestehen nicht, wie man glauben möchte, aus massivem Mauerwerk, sondern aus einem Stahlskelett, das mit Kalksteinplatten und Granit aus Cornwall verkleidet wurde.
Die Brücke hat Spannweiten von etwa 82 m - 79 m - 82 m (270 ft - 200 ft - 270 ft). Das mittlere aufklappbare Feld ist eine Balkenbrücke, während die beiden seitlichen Felder wie eine Hängebrücke gestaltet sind, in Wirklichkeit aber Fachwerkträger sind. Seltsamerweise befinden sich die Aufhängungspunkte an den Türmen in wesentlich größerer Höhe als die auf den Außenseiten, sodass man den Eindruck gewinnt, dass Ganze hinge irgendwie schief und schlaff durch. Dieser statisch ungünstige und unsymmetrisch wirkende Verlauf des oberen Gurtes war ein weiterer Kritikpunkt an der Architektur der Brücke. Damit die Zugkräfte aus den Fachwerkträgern die Türme oben nicht auseinanderreißen, musste dazwischen eine horizontale Kraftübertragung hergestellt werden, die optisch ebenfalls höchst fragwürdig erscheint.
September 1892: Die Fassaden der Türme sind teilweise schon verkleidet.
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Immerhin gelang es Wolfe-Barry aber noch, diesem horizontalen Träger eine sinnvolle Funktion zu geben. Die Tower Bridge wurde seit ihrer Eröffnung immer von sehr vielen Fußgängern benutzt. Damit diese bei hochgeklappter Brücke nicht warten mussten, wurden in den oberen Trägern zwei tunnelartige Durchgänge installiert, die über Treppen und Aufzüge (!) in den Türmen erreichbar waren.
Der Höhenunterschied zwischen der Brücke und den oberen Gehwegen beträgt allerdings 36 m, sodass dies doch ein recht mühsamer Umweg war, der nur von einem kleinen Teil des Publikums angenommen wurde. Als die Polizei feststellte, dass sich in den beiden Durchgängen immer mehr Taschendiebe und Prostituierte herumtrieben, wurde der Durchgang für den Publikumsverkehr geschlossen.
Erst als man den Durchgang 1982 in das Tower Bridge Museum einbezog, wurde er wieder für Besucher geöffnet. 2014 wurden in die beiden Röhren Glasböden eingebaut, die den Besuchern nun den Blick auf den unter ihnen fließenden Verkehr und auf die Themse freigeben.
Der in technischer Hinsicht interessanteste Teil der Tower Bridge ist die viktorianische Dampfmaschinerie, mit deren Hilfe die Klappen geöffnet und geschlossen werden können. Jede der beiden beweglichen Brückenflügel wiegt über 1.000 Tonnen (1.000.000 kg) und kann bis zu einem Winkel von 86° aus der Horizontalen nach oben geklappt werden. Die eigentliche mechanische Arbeit wurde dabei von Dampfmaschinen verrichtet, die acht hydraulische Motoren antrieben. Damit dies bei Bedarf zu jeder Zeit geschehen konnte, wurde das Wasser in Druckbehältern (sogenannte Akkumulatoren) vorgehalten. Durch ein Gewicht konnte man das Wasser unter Druck setzen, das dann über ein System von Zahnrädern die Brückenflügel bewegte.
Die Böden der oberen Fußgängerwege wurden inzwischen durch Glas ersetzt. © Bernd Nebel |
Herzstück der ganzen Maschinerie waren zwei Kolbendampfmaschinen der Firma Armstrong Mitchell & Company aus Newcastle. Mit einer Leistung von jeweils 360 PS pumpten diese beiden Maschinen das Wasser aus der Themse in die Speicher. Ihre Energie bezogen die Maschinen aus vier mit Kohle beheizten Dampfkesseln, die im südlichen Tower untergebracht waren.
Der so erzeugte Wasserdruck war nicht nur ausreichend um die Klappen innerhalb von 90 Sekunden zu heben und zu senken, sondern auch um Personenaufzüge in den Türmen zu bedienen. Insgesamt war die verwendete Technologie bei Fertigstellung der Brücke 'Top of the Art'. Der aufwändige mit Dampf betriebene Pumpmechanismus war bis 1976 in Betrieb, dann wurde er durch ein elektrisches System ersetzt.
Die Tower Bridge war nach einer Bauzeit von acht Jahren vollendet. Die offizielle Einweihung wurde am 30. Juni 1894 von Kronprinz Albert Edward (ab 1901 König Eduard VII.) und dessen Ehefrau Alexandra von Dänemark vollzogen. Die öffentliche Wahrnehmung der neuen Brücke hätte unterschiedlicher nicht sein können. Während die Mehrheit der Presse in der Brücke einen neuerlichen Beweis für die Überlegenheit britischer Ingenieurskunst sah, waren andere weit weniger euphorisch.
Besonders kritisch zeigte sich der Redakteur des Gewerbemagazins "The Builder". 'The Builder' wurde bereits 1843 gegründet und war eines der ersten britischen Technik-Magazine. Die Zeitschrift erscheint noch heute unter dem Titel "Building". Am Tag der Brückeneröffnung publizierte das Blatt eine schonungslose Abrechnung mit der eigenwilligen Architektur der Brücke. Der Artikel gipfelte in den Worten, die Brücke sei: "the most monstrous and preposterous architectural sham "der ungeheuerlichste und widersinnigste Architekturschwindel von dem wir jemals erfahren haben" that we have ever known". Außerdem habe man darauf verzichtet die Brücke abzubilden, da dies lediglich eine Verschwendung wertvoller photographischer Platten sei.
Die Bedeutung der Tower Bridge für die Infrastruktur Londons war dagegen immer über jede Kritik erhaben. Während der Verkehr auf der Brücke stetig zunahm, wurde der Klappmechanismus immer seltener in Anspruch genommen. Durch die Aufgabe des Stadthafens und die Reduzierung der Segelschifffahrt auf der Themse kommt der Klappmechanismus heute nur noch weniger als 100 Mal pro Jahr zum Einsatz. Für die kleineren Schiffe reichen die neun Meter Freiraum zwischen Wasser und Brückenunterseite in der Regel aus. Übrigens werden die Flügel nur so weit nach oben geklappt, wie es die jeweilige Schiffsgröße erfordert.
Eine Ankündigung der Öffnungszeiten der Klappbrücke mit Angabe des jeweiligen Schiffes wird auf der Internetseite http://www.towerbridge.org.uk/lift-times/ ständig aktualisiert.
Obwohl die Touristen aus aller Welt die Brücke ganz offensichtlich lieben, ist die Kritik an der wuchtigen Architektur niemals völlig verstummt.
Eines der beiden Seitenfelder. Der fachwerkartige Träger mit royalem Farbkonzept. © Bernd Nebel |
In den 1940er Jahren wurde der Vorschlag abgelehnt, die Steinverkleidung der Fassaden abzunehmen und durch Glasplatten zu ersetzen, um das stählerne Innenleben der Türme sichtbar zu machen. Anlässlich des 25. Thronjubiläums von Königin Elisabeth II. (1977) wurden alle Stahlteile in den britischen Landesfarben lackiert. Dieses Farbkonzept wurde bis heute beibehalten.
Im Laufe der Zeit wurden die beiden Brückentürme immer mehr in ein Technikmuseum umgewandelt, in dem auch die historischen Maschinen teilweise noch zu sehen sind. Der Gang über die oberen Gehwege beschert dem Besucher einen wunderbaren Blick auf den Tower, die Themse und die Skyline Londons.
Die Tower Bridge wird heute durchschnittlich von 40.000 Fahrzeugen am Tag benutzt. Zwischen der Tower Bridge und der Einmündung der Themse in die Nordsee ist inzwischen nur noch eine weitere Brücke hinzugekommen. Die Queen Elizabeth II. Brücke ist eine moderne Schrägseilbrücke, die 1991 von der Königin persönlich eröffnet wurde. Sie befindet sich etwa 25 km östlich von London.
Quellen:
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