Salginatobelbrücke

Schiers / Kanton Graubünden

Schweiz


Der elegante Betonbogen über dem wilden Tobel

Im schweizerischen Kanton Graubünden entstand im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eine Bogenbrücke, die heute als Meilenstein des Stahlbetonbaus gilt. Vor allem wird sie wegen ihrer architektonischen Wirkung im Einklang mit ihrer Umgebung bewundert und geehrt. Dabei war ihre Gestaltung zuallererst von ökonomischen Gesichtspunkten geprägt.

Wenn man sich von Schiers aus seinen Weg - sei es zu Fuß, mit dem Rad oder dem Auto - über enge Serpentinenstraßen in das 1.250 m hoch gelegene Dörfchen Schuders bahnt, steht man plötzlich vor einer schmalen weißen Stahlbetonbrücke, die sich elegant über das wilde Tal des Salginabaches spannt. Auch dem unbedarften Besucher wird sofort klar, dass es sich hier um ein besonderes Bauwerk handeln muss. Wer aufmerksam ist, dem fällt vielleicht auch die Plakette an der Nordseite des östlichen Widerlagers auf, die darauf hinweist, dass es sich hier um ein "International Historic Civil Engineering Landmark" handelt. Diese Bogenbrücke gilt heute als eines der bedeutendsten Bauwerke des frühen Stahlbetonbaus und als Höhepunkt im Lebenswerk des schweizerischen Ingenieurs Robert Maillart.


Die Schweiz: das Land der besonderen Brücken


Ausschreibung in der Schweizerischen Bauzeitung
Band 92 Nr. 2, vom 14. Juli 1928

Aufgrund ihrer Topografie war die Schweiz von jeher ein Land mit schwierigsten Bedingungen für den Warentransport, die menschliche Kommunikation und erst recht für den Verkehr mit Fahrzeugen. Hohe Berge mit steilen Hängen, wilde Bäche mit schaurig tiefen Schluchten, stellten für den Straßen- oder Eisenbahnbau eine enorme Herausforderung dar. Hier konnte die Fähigkeit eine Brücke über eine Schlucht (oder wie man in der Schweiz sagt: 'ein Tobel') zu bauen, stundenlange Umwege ersparen.

Brückenbau hatte in der Schweiz daher immer eine hohe Priorität. Insofern ist es auch kein Zufall, dass die Schweiz zu allen Zeiten berühmte Brückenbauer hervorbrachte. Exemplarisch seien hier die Namen Hans Ulrich Grubenmann, Guillaume-Henri Dufour, Othmar Ammann und Christian Menn genannt. In dieser Aufzählung fehlt allerdings noch einer der bedeutendsten: Robert Maillart aus Bern, der einer der ersten Virtuosen auf dem Gebiet des bewehrten Betonbaus war.


Das Autoverbot in Graubünden

Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts baute man in der Schweiz, wie in ganz Europa, unter Hochdruck die Eisenbahnnetze aus. In der Schweiz waren wegen der schwierigen Geländeverhältnisse häufig besondere Lösungen wie Schmalspurbahnen oder abschnittweiser Zahnradbetrieb erforderlich. Das Straßennetz hingegen wurde jahrzehntelang vernachlässigt, besonders in Graubünden. Das hatte einen regionalen Grund, nämlich ein von 1900 bis 1925 bestehendes generelles Verbot von motobetriebenen Privatfahrzeugen. Wer damals in Graubünden schon ein Auto besaß, musste tatsächlich Pferde davor einspannen, wenn er es benutzen wollte. Erst bei einer Volksabstimmung am 21.06.1925 Diese Abstimmung war bereits die neunte zu diesem Thema! entschied sich die Bevölkerung dann doch mehrheitlich zugunsten des Autoverkehrs.

Plötzlich gab es großen Nachholbedarf im Straßenbau, wenn man den Anschluss nicht verlieren wollte. Insbesondere der durch das Automobil verstärkt aufkommende Tourismus eröffnete nur denjenigen Gemeinden neue Chancen, die von der Infrastruktur her auch darauf vorbereitet waren. In Schiers, einer Gemeinde im Nordteil Graubündens spielten solche Überlegungen allerdings nur eine untergeordnete Rolle, als in den 1920er Jahren der Ruf nach einer Straße in das kleine Bergdorf Schuders laut wurde.

Hier brauchte man die Straße auch für die Säumer, Ein 'Säumer' transportiert in den Alpen mit Hilfe von Lasttieren Waren oder Güter über Gebirgspässe. Das Gewerbe bezeichnet man als 'Säumerei'. den Postboten und den Landarzt. Diese bewegten sich zwar meistens zu Fuß, mit Pferden oder Kutschen und dennoch war der Weg in den Nachbarort außerordentlich anstrengend und nur bei gutem Wetter zu bewältigen. Der Hauptgrund dafür war das wilde Tal des Salginabachs, der im Frühjahr zu einem reißenden Strom wurde und bereits eine 80 m tiefe Schlucht in die Felsen gegraben hatte.

Schon lange vor der Aufhebung des Autoverbots wurden daher erste Vorschläge für den Verlauf der so dringend benötigten Straße vorgestellt, deren kritischer Punkt immer die Querung des Salginabachs war. Zu den vorgelegten Entwürfen gehörten Betonbögen, Holzbalkenbrücken und auch ein Eisenfachwerkträger. Besonders interessant war der Vorschlag einer Drahtseil-Hängebrücke von Richard Coray aus dem Jahr 1918, die eine Spannweite von 120 m haben sollte und fast genau am heutigen Standort der Brücke vorgesehen war.


Die Kosten werden geteilt

Durch jahrzehntelange Diskussionen über die konkrete Linienführung sowie die ungeklärte Finanzierung, verzögerte sich die Entscheidung aber ein ums andere Mal. Die Gemeinde Schiers wäre mit ihren knapp 2.000 Einwohnern kaum dazu in der Lage gewesen, ein solches Projekt zu stemmen. Das musste sie aber auch nicht, denn der Kanton Graubünden war ohnehin mit im Boot. Trotzdem kam das Projekt erst so richtig in Schwung, als sich auch die Bundesverwaltung bereit erklärte, einen finanziellen Beitrag zu leisten.

Anfang 1928 war die grundsätzliche Entscheidung für den Straßenbau und somit auch für die Brücke gefallen. Allerdings war immer noch nicht klar, was für ein Brückentyp es werden sollte und wo der genaue Standort sein würde. Man führte daher eine sogenannte Funktionalausschreibung Eine Funktionalausschreibung enthält kein detailliertes Leistungsverzeichnis für ein durchgeplantes Bauwerk, sondern eine möglichst genaue Beschreibung des beabsichtigten Zwecks. Die Erarbeitung der technischen Lösung ist also Teil der ausgeschriebenen Leistung. durch, bei der zu jedem Angebot ein möglichst weit durchgearbeiteter Entwurf einschließlich verbindlicher Kostenkalkulation gehörte. Ein solches Ausschreibungsverfahren bedingt eine enge Zusammenarbeit zwischen einem Konstrukteur und einem Bauunternehmer.

Richard Corays Kunstwerk auf Zeit: das Lehrgerüst.
Oben links das noch nicht fertiggestellte Gerüst für die Transportbahn.

Die Ausschreibung wurde Mitte Juli 1928 in vielen Tageszeitungen und der Schweizerischen Bauzeitung veröffentlicht. Insgesamt wurden 12 Angebote für Betonbrücken und sieben Vorschläge für Eisenbrücken abgegeben. Die Preise lagen zwischen 135.000 und 380.000 sFr. Den Zuschlag erhielt das preiswerteste aber auch in jeder anderen Hinsicht annehmbarste Angebot der Baufirma Prader & Cie aus Zürich. Für den Entwurf einschließlich der statischen Berechnung hatte Prader mit Robert Maillart Florian Prader und Robert Maillart hatten schon beim Grandfey-Viadukt (1925) in Freiburg auf die gleiche Weise zusammengearbeitet. einen Mann engagiert, der gerade mit Bauwerken aus Eisenbeton Furore machte. Maillart hatte schon mehrere Brücken in der Schweiz aus Eisenbeton gebaut. Die Auftraggeber lobten gleichermaßen die architektonische Gestaltung seiner Bauwerke, als auch die ausgesprochen kostengünstige Bauweise.


Maillart und Prader erhalten den Zuschlag

Im Prinzip war Maillarts Salginatobelprojekt eine Weiterentwicklung seiner Rheinbrücke bei Tavanasa Die Tavanasabrücke wurde bei einem Erdrutsch am 25.09.1927 vollständig zerstört. aus dem Jahr 1905. Schon hier hatte er einen Hohlkasten mit Dreigelenkbogen und sehr schlanken Betonquerschnitten realisiert. Nach Maillarts Plänen sollte auch die Salginatobelbrücke von einem zierlichen Hohlkasten getragen werden. Da die Konstruktion auch dem Oberingenieur Johann Scola vom kantonalen Bauamt in Chur äußerst filigran erschien, beschloss er, sich an höhere Stelle zu wenden. Die höchste Instanz der Schweiz in Baufragen war und ist die Eidgenössische Materialprüfungsanstalt Die Materialprüfungsanstalt wurde nach dem Einsturz der Eisenbahnbrücke bei Münchenstein ins Leben gerufen. an der ETH in Zürich. Nach eingehender Prüfung wurde von dort dringend empfohlen, die drei Gelenke zu verstärken und einige Betonquerschnitte um ein paar cm zu vergrößern. Unter anderem sollte die Bogenplatte am Scheitel von 18 auf 20 cm verstärkt werden. Maillart war alles andere als erfreut über diese Auflagen, obwohl der Kanton Graubünden versprach, die dadurch entstandenen Mehrkosten zu übernehmen. Letzten Endes hatte er jedoch keine andere Wahl, als sich dem hohen Urteil zu beugen. Maillarts Tochter Marie-Claire sagte später in einem Interview: "Der Test mit den Sandsäcken bewies dann, dass das Brücklein noch viel mehr ausgehalten hätte. Mein Vater hatte recht: 16 cm hätten auch genügt!
[Maillart hatte allerdings 18 cm geplant]."


Der original Längsschnitt.
Gut zu erkennen sind die in den Fels gesprengten Einschnitte für die Kämpfergelenke des Bogens sowie die Längsneigung des Fahrbahnträgers.
Die Querwände haben Abstände von jeweils 6 m, nur die beiden zentralen Felder am Bogenscheitel sind jeweils 8,80 m lang.

Die topografischen Verhältnisse bei Schiers waren ausgesprochen schwierig. Es gab zwar ringsum soliden Fels, der hervorragend als Baugrund geeignet war, aber die Vorbereitungen der Flächen für die Widerlager verlangten umfangreiche Sprengarbeiten. Die zahlreichen Sprengungen waren auch erforderlich, um die Längsneigung der Brücke auf ein verträgliches Maß zu reduzieren und allzu enge Kurven an den Brückenenden zu vermeiden. Die Sprengarbeiten wurden größtenteils im Spätherbst 1929 durchgeführt, aber der eigentliche Baubeginn erfolgte schon im Frühjahr mit der Herstellung eines Transportgerüsts.

Der Bauunternehmer Florian Prader überließ offenbar nichts dem Zufall, insbesondere bei der Wahl seiner Geschäftspartner. Nachdem er mit Maillart den besten Konstrukteur der Schweiz für Betonbrücken engagiert hatte, holte er sich für den Bau des Lehrgerüstes den damals schon legendären Richard Coray, der aus dem ca. 40 km entfernten Trins stammte.


Der Zimmermann Richard Coray


Interessanterweise hatte Richard Coray schon 1918 selbst einen Entwurf für eine Brücke über das Salginatobel vorgelegt. Seine Planung sah eine relativ schmale Drahtseil-Hängebrücke mit Holzplanken vor und hätte sich fast genau an der gleichen Stelle befunden, wie die heutige Brücke. Coray war zwar gelernter Zimmermann, hatte aber schon beim Bau von Seilriesen im Hochgebirge vielfältige Erfahrungen mit Drahtkabeln gesammelt. Bei einigen seiner Gerüstaufträge hatte er auch schon Behelfsbrücken als Hängekonstruktion ausgeführt. Warum er sich bei der entscheidenden Ausschreibung im Sommer 1928 dann aber nicht am Wettbewerb beteiligte, ist unbekannt.

Die Gemeinde Schiers leistete ihren Beitrag zur Finanzierung der Salginatobelbrücke, indem sie das Holz für das erforderliche Lehrgerüst ohne Bezahlung zur Verfügung stellte. Die Arbeiten am Lehrgerüst begannen im Sommer 1929 mit dem Einschlagen von ca. 700 m³ Holz aus dem Schierser Wald. Die Stämme wurden anschließend in der gemeindeeigenen Sägerei zu Kanthölzern verarbeitet und in diesem Zustand der Firma Coray zur Herstellung des Gerüsts übergeben.

Damit man nicht gezwungen war, die Kanthölzer an der eigentlichen Baustelle in gefährlicher Höhe zu bearbeiten, wurde das gesamte Gerüst vorher schon einmal auf festem Grund und Boden zusammengebaut. Für diesen Vorgang, den man 'Abbinden' nennt, wurde mitten in Schiers ein ca. 3.000 m² großer, völlig ebener und aus Brettern bestehender Reißboden hergestellt. Auf diesem Reißboden zeichnete man das Gerüst (in vier Abschnitte zerlegt) im Maßstab 1:1 auf. Nun wurden die Kanthölzer exakt bearbeitet, abgelängt, gebohrt und so auf dem Boden ausgelegt und miteinander verbunden, wie sie später an ihrem Einsatzort zusammengehörten. Danach wurde alles wieder auseinandergenommen, zur Baustelle transportiert und die Aufstellung des Gerüstes in Angriff genommen.

Richard Coray

Obwohl Richard Coray kein Ingenieur sondern ein Zimmermann war, muss man seinen Namen in einem Atemzug mit den größten Brückenbauern der Welt nennen, denn seine genialen Lehrgerüste machten es überhaupt erst möglich, weit gespannte Brücken aus Beton in den Schweizer Bergen zu bauen. Das Bauwerk bleibt, während das Lehrgerüst nur von kurzer Lebensdauer ist und schnell in Vergessenheit gerät. Es wird daher leicht übersehen, dass ein solides Lehrgerüst ein technisches und handwerkliches Meisterwerk ist und Richard Coray war einer der besten Gerüstbauer aller Zeiten.

Richard Coray (sen.) wurde 1869 in Trin / Kanton Graubünden als Sohn des Konditors Durisch Coray geboren. Nach der Dorfschule trat er zunächst eine Kaufmannslehre an, erkannte aber schnell, dass dies nicht das Richtige für ihn ist. Nach einer weiteren Lehre zum Zimmermann bildete er sich drei Jahre am Technikum in Winterthur weiter. Allerdings nur im Winter, denn im Sommer musste er arbeiten, um sich das Geld fürs Studium zu verdienen. Anschließend gründete er mit seinem Bruder Vincenz und einem weiteren Kompagnon eine Firma, deren wichtigstes Betätigungsfeld zunächst die Herstellung von Seilriesen im Gebirge war.

Die Firma führte aber auch Zimmermannsarbeiten durch und erhielt 1896 den Zuschlag für die Errichtung eines Lehrgerüsts für eine Eisenbrücke im Versamer Tobel. Der Auftrag wurde mit einem Defizit abgeschlossen, was Coray zum Anlass nahm, sich von seinen Teilhabern zu trennen. Die Arbeit war aber von erstklassiger Qualität, sodass sich nach einem kurzen Auslandsaufenthalt weitere Aufträge im Gerüstbau ergaben. Insbesondere durch den nun häufig verwendeten Eisen- und Stahlbeton waren jetzt viele Lehrgerüste zu bauen. In der Zeit von 1898 bis 1940 war Coray mit seiner neuen Firma an den wichtigsten Betonbrücken in der Schweiz beteiligt. Unter anderem baute er die Lehrgerüste für den Wiesener Viadukt (1906), den Langwieser Viadukt (1913) und die Hinterrheinbrücke bei Sils (1925).

Allerdings war die Auftragslage nicht immer zufriedenstellend und die Gewinne erlaubten Coray keine großen Rücklagen. Dadurch war er immer wieder gezwungen, Arbeiten ganz anderer Art anzunehmen. So baute er eine Seilbahn nur für den Milchtransport, barg eine abgestürzte Lokomotive der Rhätischen Bahn aus dem Inn, baute eine Skihütte für den Schweizerischen Alpenclub in Nagiens, sicherte gemeinsam mit Robert Maillart den schiefen Turm von St. Moritz und rettete einen Höhlenforscher aus einem stillgelegten Bergwerksstollen.

Coray war sehr groß und ein Bär von einem Mann. Er war absolut schwindelfrei und zeigte nicht die geringste Furcht vor der Arbeit in großer Höhe. Er soll einmal gesagt haben: "Ob man 10 oder 200 m totfällt, kommt auf das Gleiche heraus". Dennoch betraf der einzige schwere Unfall beim Bau der Salginatobelbrücke ausgerechnet Coray. Er fiel aber nicht etwa vom Gerüst, sondern rutschte bei Vermessungsarbeiten am östlichen Widerlager aus und fiel etwa 35 m die Felswand hinunter. Es mutet wie ein Wunder an, dass der 60-jährige Coray dabei weder Knochenbrüche noch innere Verletzungen erlitt. Allerdings hatte er schwere Kopfwunden und musste längere Zeit im Krankenhaus verbringen. Den größten Teil der Arbeiten an der Salginatobelbrücke leitete daher sein Sohn, Richard Coray jun.

Gegen Ende der 1930er Jahre überließ er seinen Söhnen Schritt für Schritt die Leitung der Firma und zog sich langsam aus dem Berufsleben zurück. Nach längerer Krankheit starb Richard Coray am 3. Oktober 1946 im Alter von 77 Jahren, in Wiesen / Graubünden.

Das Lehrgerüst für die Salginatobelbrücke nötigt noch heute jedem Betrachter der alten s/w-Fotos größten Respekt ab. Es war ein ganz eigenes technisches Meisterwerk, allerdings nur auf Zeit und von vornherein dem Abbruch geweiht. Wenn man bedenkt, dass die Aufstellung des Gerüstes nur von 6-7 Männern erledigt wurde, kann man sich vorstellen, was dies für eine Anstrengung gewesen sein muss. Es gab keinen Kran, sondern nur eine Transportbahn in Form eines über die Salginaschlucht gespannten Stahlseils. An dem Seil konnte man die Hölzer an die richtige Stelle transportieren und dann herunterlassen. Den Rest mussten die Arbeiter mit ihrer Muskelkraft bewältigen. Als in den Zeitungen verkündet wurde, dass man in Schiers mit der Aufstellung des Lehrgerüsts begonnen hatte, strömten viele Schaulustige herbei, um den Männern bei ihrer gefährlichen Arbeit in schwindelerregender Höhe, ohne die heute üblichen Sicherheitsvorkehrungen, zuzusehen. Durch die verspätete Lieferung des Holzes konnte man das Gerüst nicht vor Einbruch des Winters 1929/30 vollenden und war gezwungen, die Arbeiten für mehrere Monate ruhen zu lassen. Der Winter war besonders streng und lang, sodass erst Mitte April weitergearbeitet werden konnte.


Der filigrane Bogen wird gegossen

Das Gerüst hatte zunächst die Aufgabe den Bogen aus Stahlbeton zu stützen, bis dieser nach dem Aushärten selbst einen Teil der später hinzukommenden Last aus Querwänden, Hohlkasten und Fahrbahnträger übernehmen konnte. Die Bogenplatte hat an den Kämpfergelenken eine Stärke von 40 cm und verjüngt sich bis zum Scheitelgelenk auf 20 cm. Ebenso verjüngt sie sich in der Breite von 6 m an den Gelenken auf 3,50 m am Scheitel. Obwohl es im April immer noch schneite, begann man mit der Vorbereitung der Schalung und der Montage der Bewehrung für den Bogenguss.

Das Betonieren des Bogens war vor allem in logistischer Hinsicht ein ausgesprochen komplexer Vorgang. Das fing schon mit dem Wetter an, denn man brauchte bestimmte Bedingungen: nicht zu warm, keine direkte Sonneneinstrahlung, leichter Nieselregen wäre gut. Man hielt ständigen Kontakt zum schweizerischen Wetteramt in Zürich und erhielt Anfang Mai endlich die ersehnte Nachricht: es konnte losgehen!

Um den Beton schnell an den jeweiligen Einsatzort zu bringen, richtete man auf beiden Seiten jeweils zwei Mischstationen ein. An jedem dieser Plätze bereiteten vier Männer (insgesamt also 16) nur mit Schaufeln und Muskelkraft den Beton zu. Auch Robert Maillart war extra für diesen heiklen Moment nach Schiers gekommen und prüfte die Konsistenz des Betons mit dem Finger. Auch diese Anekdote verdanken wir Maillarts Tochter Marie-Claire. Er gab die Mischung erst frei, wenn sie vollkommen seinen Vorstellungen entsprach. Der Transport des Betons erfolgte größtenteils mit Schubkarren und erst ab einem bestimmten Punkt mit Karetten auf der Transportbahn. Verdichtet wurde mit verschieden geformten Handstampfern, denn automatische Betonrüttler gab es noch nicht.

Da der Bogen keine Fugen haben durfte, musste der Betoniervorgang an einem Stück, d.h. ununterbrochen bis zu seiner Vollendung bewerkstelligt werden. Man betonierte von beiden Widerlagern aus gleichzeitig. Damit wollte man nicht nur Zeit sparen, sondern auch eine gleichmäßige Kraftverteilung auf das Lehrgerüst erreichen. Man begann an den beiden Kämpfergelenken und deckte die fertig betonierten Abschnitte sofort ab, damit der Beton nicht abfließen konnte. Das Betonieren des Bogens dauerte insgesamt 43 Stunden ohne irgendeine Unterbrechung. In der Nacht wurde bei künstlichem Licht gearbeitet, das 'heller war als der Tag'. Auch bei diesem interessanten Bauabschnitt waren wieder viele Zuschauer anwesend.


Die Stunde der Wahrheit: die Belastungsprobe

Nach dem Aushärten half der Bogen dem Gerüst dabei, die später noch hinzukommenden Lasten aus Seiten- und Querwänden sowie dem Fahrbahnträger zu stützen. Erst danach wirkte der Hohlkasten als statisch wirksame Einheit und trug sich vollständig selbst. Bis dahin konnte auf das Gerüst aber noch nicht verzichtet werden. In den nächsten Wochen wurden die restlichen Betonarbeiten zügig zum Abschluss gebracht. Knapp drei Monate nach dem Bogenguss wurde einigen Personen, bei denen ein besonderes öffentliches Interesse bestand, die vorzeitige Benutzung der Brücke erlaubt, obwohl die Belastungsprobe und Bauabnahme noch nicht stattgefunden hatten. Die Säumer und der Postbote mit seinem Pferd waren die ersten offiziellen Nutzer der Brücke. Es wäre wohl auch kaum nachvollziehbar gewesen, wenn der Postbote weiter den anstrengenden Ab- und Aufstieg hätte machen müssen, wo doch die fertige Brücke schon dastand.

Für den allgemeinen Gebrauch konnte die Brücke aber erst freigegeben werden, nachdem die amtliche Abnahme In der Schweiz nennt man die Bauabnahme auch 'Kolladaution'. erfolgreich bestanden worden war. Am 18. August 1930 fand der offizielle Termin statt, bei dem das Bauunternehmen das fertige Bauwerk an den Auftraggeber übergab. Wieder waren viele Schaulustige anwesend und diesmal auch Prominenz aus Politik und Verwaltung.

Vor der Abnahme stand aber die Probebelastung, für die das Gerüst um wenige cm abgesenkt werden musste. Im Moment der Belastung sollte das Gerüst nur noch als 'Sicherung' für die ansonsten frei tragende Brücke zur Verfügung stehen. Für den Absenkvorgang hatte sich Coray ein neues, besonders kostensparendes Verfahren ausgedacht. Die Streben wurden von zwei Seiten mit einer Säge so weit geschwächt, bis der verbliebene Steg wegbrach. Damit der obere Teil nicht abrutschte, hatte man ihn durch Zangen gesichert. Trotzdem war das Schwächen der Streben ein riskantes und gefährliches Unterfangen, bei dem nur die erfahrensten Zimmerleute eingesetzt wurden. Alles funktionierte perfekt: der Bogen lag frei, und zum ersten Mal trug der Hohlkasten das gesamte Eigengewicht der Brücke. Um eine zusätzliche Verkehrslast aufzubringen, hatte man auf der Brücke Schienen verlegt, auf denen Transportwagen hin und her bewegt werden konnten. Nun legte man Sandsäcke auf die Transportwagen und belastete den Träger in verschiedenen Laststellungen mit einer Masse von maximal 20 Tonnen.

Die Probe musste von einem neutralen, unbeteiligten Experten abgenommen werden. Diese Aufgabe übernahm wieder die Materialprüfungsanstalt aus Zürich, vertreten durch ihren Direktor, Professor Dr. Mirko Roš. Bereits während der Gerüstabsenkung hatte er verschiedene Parameter an der Brücke gemessen, wie z.B. die Absenkung des Bogenscheitels, Schwingung des Trägers, Breite der Fugen, Drehung der Gelenke usw. Diese Messungen wurden während des Belastungsvorgangs fortgesetzt. Nach einer späteren Veröffentlichung Maillarts betrug die Absenkung des Bogenscheitels in der ungünstigsten Laststellung nur 1,8 mm. Die Probe war somit bestanden und die Abnahme konnte erfolgen. Die Abnahme bedeutet auch die Übergabe des Bauwerks vom Unternehmer an den Auftraggeber, verbunden mit der Umkehr der Beweispflicht bei später evt. auftretenden Schäden. Am nächsten Tag wurde die neue Straße, einschließlich der Salginatobelbrücke, für den Allgemeingebrauch freigegeben.


Späte Ehrungen


Die Ehrung durch die 'American Society of Civil Engineers' (1991).
Plakette am östlichen Brückenende (Schuders).

Die Salginatobelbrücke fand in den ersten Jahren nach ihrer Vollendung außerhalb der Schweiz nur wenig Beachtung. Man darf nicht vergessen, dass es sich um eine einspurige Brücke im Zuge einer abseits gelegenen Gemeindestraße handelte, die trotz ihrer beeindruckenden Abmessungen keine Spannweitenrekorde brach. Auch die handelnden Personen erregten außerhalb der Schweiz nur wenig Aufmerksamkeit, denn selbst Robert Maillart war bis zu seinem Tod im Jahr 1940 international kaum bekannt. Erst dem aus Winterthur stammenden Architekten und Künstler Max Bill gelang es nach Maillarts Tod, das Werk des Betonvirtuosen auch international bekannt zu machen. Max Bill veröffentlichte 1947 die erste Biografie über Robert Maillart als Buch. Die Initialzündung wirkte, und schon bald schlossen sich weitere Autoren an, wie z.B. David P. Billington. Dadurch rückte allmählich auch die Salginatobelbrücke in den Focus, denn sie gilt bis heute als Maillarts Meisterwerk.

Über 60 Jahre nach ihrem Bau verlieh die größte amerikanische Ingenieurvereinigung, die American Society of Civil Engineers, der Salginatobelbrücke den Titel "International Historic Civil Engineer Landmark". "Historischer Meilenstein der Bauingenieurkunst" Bei der feierlichen Zeremonie am 21. August 1991 wurde auf der Nordostseite der Brücke eine Plakette enthüllt, auf der mit Coray, Prader und Maillart die wichtigsten Protagonisten beim Bau der Brücke genannt werden. Mit dieser Ehrung steht die Salginatobelbrücke in einer Reihe mit Bauwerken wie Machu Picchu, dem Panama-Kanal, der Freiheitsstatue, dem Eiffelturm, dem ersten Tunnel unter der Themse, der Hagia Sophia und Brücken wie der Brooklyn Bridge, der Golden Gate Bridge, der Firth of Forth Bridge und dem Aquädukt von Segovia.

Heute, nach über 90 Betriebsjahren, ist die Salginatobelbrücke bekannter als jemals zuvor - und das weltweit. Sie wurde in unzähligen Veröffentlichungen abgebildet und besprochen. In den internationalen Architektur- und Ingenieurschulen wird sie als Anschauungs- und Lehrobjekt behandelt. Sie ist ein hervorragendes Beispiel dafür, dass ein guter Ingenieur trotz enormen Kostendrucks und äußerst schwierigen Randbedingungen nicht nur eine sehr wirtschaftliche, sondern gleichzeitig auch eine architektonisch herausragende Lösung anbieten kann.


Nach 90 Betriebsjahren bekannter denn je


Mithilfe einiger Sanierungsmaßnahmen hat die Brücke die Zeit fast unbeschadet überstanden und zeigt sich dem Besucher bis heute in einem guten Zustand. Zweimal wurden die Lager ausgetauscht, bevor im Jahre 1994 Gleitlager eingebaut wurden. Eine umfassende Überholung fand in den Jahren 1997 / 98 statt. Dabei wurden alle Betonflächen saniert und mit einer dünnen Spritzbetonschicht überzogen. Um das ursprüngliche Aussehen bestmöglich zu erhalten, stellte man die Struktur der Holzschalungen mit Hilfe alter Fotografien originalgetreu wieder her. Die aufwändige Sanierung kostete 2.000.000 Schweizer Franken, neben denen sich die einstigen Herstellungskosten recht bescheiden ausnehmen.

Wer in der Nähe ist, sollte sich einen Besuch der Salginatobelbrücke nicht entgehen lassen. Wie eigentlich immer bei Brücken, ist die Besichtigung völlig kostenlos. Die Gemeinde Schiers ist sich ihres Juwels vollkommen bewusst und hat gut sichtbare Hinweistafeln aufgestellt. Die Brücke selbst kann auf einem ausgeschilderten Rundweg aus allen Richtungen betrachtet und fotografiert werden. Auch für Biker gibt es interessante Strecken, die an der Brücke vorbei und darüber hinweg führen.

Etwas abenteuerlicher ist da schon die Besichtigung des Hohlkastens im Inneren des Bogens, den man über einen schmalen Pfad am Widerlager auf der Westseite (Schiers) erreichen kann. Dort ist der Hohlkasten bis unmittelbar vor das Scheitelgelenk begehbar, weil die senkrechten Querwände Inspektionsdurchlässe haben. Im steilsten Stück des Bogens hilft ein Geländer beim Anstieg. Die letzten vier Querwände vor dem Scheitelgelenk haben allerdings nur noch 'Mannlöcher' mit 50 cm Durchmesser. Für den unerschrockenen Entdecker ist daher dringend eine Taschenlampe zu empfehlen.

Wer sich noch weiter über den Bau der Salginatobelbrücke und den Brückenbau im Allgemeinen informieren will, dem sei die Brückenbau-Modellausstellung in Schiers empfohlen. Weitere Informationen finden sie hier: brueckenbaumodelle.ch/.

Quellen: Interne Links:
  • Andreas Kessler: "Salginatobelbrücke - Werdegang eines Meisterwerks". [Schiers 2011].
  • David P. Billington: "Robert Maillart und die Kunst des Stahlbetonbaus". [Zürich, 1990].
  • David P. Billington: "Der Turm und die Brücke - Die neue Kunst des Ingenieurbaus". [Berlin, 2014].
  • Jürg Conzett: "Richard Corays Brückengerüste". Veröffentlicht in "Beiträge zur Geschichte des Bauingenieurwesens", Heft 11: Vorträge im Wintersemester 1999/2000. [Technische Universität München, 2000].
  • Eberhard Schunck / Ekkehard Ramm: " Robert Maillart (1872-1940)". Veröffentlicht in: "Beiträge zur Geschichte des Bauingenieurwesens", Heft 2: Texte zur Ausstellung. [Universität Stuttgart, 3. Aufl. 1997].
  • David P. Billington: "Robert Maillart - Baumeister und Brückenbauer", veröffentlicht in: "Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik" [Zürich, 1985]
  • Jürg Conzett: "Richard Coray - Gerüst und Seilbahnbauer", veröffentlicht in: "Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik" [Zürich, 1985]
  • Günter Günschel: "Große Konstrukteure 1". [Berlin, 1966]
  • Gerhard Mehlhorn: "Handbuch Brücken - Entwerfen, Konstruieren, Berechnen, Bauen und Erhalten" [Heidelberg 2007].
  • H. Rudolphi: "ASCE erkürt die Salginatobelbrücke als International Historic Civil Engineering Landmark"; veröffentlicht in 'Schweizer Ingenieur und Architekt' [Band 109/1991, Seite 1234]
  • https://www.atlasofplaces.com/architecture/salginatobelbruecke/


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