Postkarte 1928
Solingen und Remscheid waren gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufstrebende Industriestädte, deren wichtigster Wirtschaftszweig in der Herstellung von Scheren und Messern bestand. Um das Jahr 1890 waren sie mit einer Einwohnerzahl von ca. 40.000 auch etwa gleich groß. Beide Städte waren schon um 1860 an das deutsche Eisenbahnnetz angeschlossen, allerdings unabhängig voneinander, an verschiedene Linien und ohne direkte Verbindung. Luftlinie liegen Solingen und Remscheid nur etwa 8 km voneinander entfernt, aber die kürzeste Eisenbahnverbindung über Elberfeld hatte damals eine Länge von 44 km.
Da zwischen den Städten viele geschäftliche und private Beziehungen bestanden, forderten beide Bürgerschaften schon um 1880 die direkte Eisenbahnverbindung. Neben den politischen und finanziellen Problemen gab es aber auch handfeste technische Schwierigkeiten zu überwinden: zwischen den Städten musste das tiefe Tal der Wupper überbrückt werden. Gerade an dieser Stelle erforderte die Eisenbahnlinie daher eine Brücke mit Dimensionen, wie sie es bis dahin in Deutschland nicht gegeben hatte.
Ein vorgefertigter Träger für eines der Nebenfelder wird nach oben gezogen © MAN |
Die Talquerung machte die kurze Eisenbahnverbindung also überproportional teuer und entsprechend schwierig war es daher, die politisch Verantwortlichen von ihrer Notwendigkeit zu überzeugen. Die erste Hürde war die königl. preußische Eisenbahndirektion in Elberfeld, die 1890 einen generellen Vorschlag nach Berlin schickte, der jedoch das statische Prinzip der Brücke noch offen ließ. Mit geschätzten Kosten von knapp 5 Millionen Reichsmark wurde der Bau der Linie vom preußischen Landtag bewilligt.
Die Eisenbahndirektion erhielt nun den Auftrag, das Brückensystem festzulegen und die Bauarbeiten an eine zuverlässige Firma zu vergeben. Es kamen im Grunde genommen nur drei Brückenarten infrage: eine Fachwerk-Balkenbrücke mit einer Vielzahl von Stützen (auch Gerüstbrücke genannt), eine Auslegerbrücke mit Gerberträger oder eine Fachwerk-Bogenbrücke.
Da es sich um ein absolutes Topprojekt des deutschen Eisenbaus handelte, wurden nur die vier renommiertesten Stahlbaufirmen des Landes an der beschränkten Ausschreibung beteiligt.
Die Union AG aus Dortmund lehnte die Teilnahme am Wettbewerb ab, da sie zu diesem Zeitpunkt keine Kapazitäten für ein so großes Projekt frei hatte. Die Gutehoffnungshütte aus Oberhausen arbeitete die Gerüstbrücke aus, die jedoch mit 20 Pfeilern und Spannweiten von 20 bis 30 m das ganze Tal auch optisch sehr stark in Mitleidenschaft gezogen hätte. Außerdem beanspruchte diese Variante das meiste Eisen, sodass sie auch vergleichsweise teuer geworden wäre.
Anton Rieppel
Anton Rieppel wurde am 17.04.1852 in dem kleinen Weiler Hopfau an der Glatt im Schwarzwald geboren. Hopfau gehört heute zur Stadt Sulz am Neckar, im Landkreis Rottweil. Sein Vater betrieb ein kleines Hammerwerk und nebenberuflich einen landwirtschaftlichen Betrieb. Seine Mutter war die Tochter eines Müllers aus dem nahegelegenen Gretschenreuth. Anton musste von Kind auf bei der harten Arbeit in beiden Betrieben mithelfen, interessierte sich aber deutlich mehr für die Metallverarbeitung. Seine schlechte körperliche Konstitution veranlasste die Eltern dazu, ihre ursprünglichen Planungen aufzugeben und ihn weiter zur Schule zu schicken. Im Alter von 17 Jahren wechselte er an die Industrieschule in München, um sich auf das Baufach zu spezialisieren. Wie bei allen Ausbildungsabschnitten gehörte er auch hier zu den Besten und erzielte hervorragende Leistungen. Etwa zu dieser Zeit waren seine Eltern gezwungen eine schicksalsschwere Entscheidung zu treffen. Durch den zunehmenden Druck immer größerer Hammerwerke konnten sie den Betrieb nicht mehr aufrechterhalten und wanderten nach Amerika aus, wo sie sich Verwandten anschlossen. Anton blieb völlig auf sich alleine gestellt zurück in Deutschland und widmete sich nun umso intensiver seiner Ausbildung. Im Oktober 1871 begann Rieppel ein Studium an der Technischen Hochschule in München, deren Direktor ihm gelegentlich Nebentätigkeiten vermittelte, die für ihn nun überlebenswichtig waren. Gegen Ende seines Studiums überwog sogar die berufliche Tätigkeit, denn er war gezwungen selbst das Geld für seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Seine erste richtige Anstellung erhielt er daher noch als Student bei der Süddeutschen Brückenbau AG unter der Leitung von Heinrich Gerber. 1875 stellte er sich der Abschlussprüfung an der Hochschule, die er mit der Note 1 bestand. Anschließend wurde er in das Werk in Gustavsburg versetzt. Nur ein Jahr später verstarb dessen Betriebsleiter und wurde durch Anton Rieppel ersetzt. Kurz darauf wurde die Süddeutsche Brückenbau AG liquidiert und das Werk Gustavsburg von der Maschinenbau AG Nürnberg übernommen. Etwa gleichzeitig ging Gerber in den Ruhestand, und Rieppels Weg führte weiter steil nach oben. 1889 wurde er zum Direktor der MAN befördert und zog nach Nürnberg. In dieser Position konnte er schon bald beweisen, dass er nicht nur ein hervorragender Ingenieur war, sondern vor allem auch ein gewiefter Unternehmer. Mit tiefgreifenden Strukturveränderungen und harten Sparmaßnahmen holte er den Betrieb aus einer seit vielen Jahren bestehenden Krise. Durch die von ihm mitinitiierte Fusion mit der Maschinenfabrik Augsburg (1898) hob er das Unternehmen auf eine neue unternehmerische Ebene. In Nürnberg wurde ein neues Zentralwerk errichtet, dessen positive Entwicklung der nächsten Jahrzehnte hauptsächlich von Rieppel bestimmt wurde. Auch für das Werk Gustavsburg, das sich vor allem mit dem Bau von Eisenbrücken beschäftigte, war Rieppel weiterhin verantwortlich. Durch den Bau der Müngstener Brücke wurde das Unternehmen weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt. Als Privatmann hatte Anton Rieppel weit weniger Glück als im Berufsleben. 1877 hatte er Josephine Karoline Lasne geheiratet, mit der er vier Kinder hatte. Zwei Töchter starben jedoch sehr früh und auch seine Ehefrau verstarb bereits 1889. Später ging er eine zweite Ehe mit Anna Emilie Merck ein. Als er zu einem gewissen Vermögen gekommen war, erfüllte er sich einen Herzenswunsch, indem er seine Eltern aus Amerika nach Nürnberg holte. Anton Rieppel erhielt im Laufe seines Berufslebens zahlreiche Orden und Ehrungen. 1906 wurde ihm das Ritterkreuz der Bayerischen Krone verliehen, das auch mit dem persönlichen Adelstitel verbunden war. Viele Jahre lang war er Vorsitzender der Vereinigung deutscher Ingenieure. Im Alter von 68 Jahren zog sich Anton von Rieppel aus gesundheitlichen Gründen vom Berufsleben zurück. Er starb am 31. Januar 1926 in Nürnberg. |
Das Konzept für die Auslegerbrücke wurde von der Fa. Harkort aus Duisburg vorgelegt. Äußerlich war der Entwurf wie ein Fachwerkbogen gestaltet, mit sehr massiven Pfeilern und einer Hauptspannweite von knapp 170 Metern. Letztendlich war aber auch dieser Vorschlag zu teuer und fand auch aus ästhetischen Gründen nicht die Zustimmung der Eisenbahnverwaltung. Den Wettbewerb gewann schließlich die 'Maschinenbau- und Aktiengesellschaft Nürnberg' (später fusioniert als MAN bekannt) mit dem von Anfang an favorisierten Fachwerkbogen.
Seit dem 1884 erfolgten Rücktritt Heinrich Gerbers vom Vorstand der MAN, stand Anton Rieppel aus der Oberpfalz an der Spitze des Unternehmens. Die Bauvorbereitungen wurden von der Zweigniederlassung in Gustavsburg betreut, die auf Brückenbau spezialisiert war. Offiziell begannen die Bauarbeiten mit dem ersten Spatenstich am 26. Februar 1894. Vorher war aber bereits ein 7.500 m² großer Werkplatz beim nahegelegenen Schaberg angelegt worden, auf dem das Material gelagert und die Stahlbauteile vormontiert wurden.
Die meisten der für die Bauarbeiten erforderlichen Maschinen, wie Pumpen, Kräne, Betonmischmaschinen, Nietgeräte und die Materialbahn wurden mit elektrischer Energie betrieben. Auch wurde die gesamte Baustelle bei schlechten Lichtverhältnissen elektrisch beleuchtet. Zu diesem Zweck verfügte die Baustelle über eine eigene Stromversorgung, die durch zwei dampfbetriebene Dynamos mit jeweils 23.000 Watt Leistung gespeist wurde.
Die Widerlager und die Pfeilerfundamente wurden aus Rhurkohlensandstein gemauert. Besonders stark belastete Punkte wurden allerdings aus Granit hergestellt. Da überall in geringer Tiefe tragfähiger Tonschieferfels anstand, machte die Gründung keine unlösbaren Probleme. Schwierigkeiten machten in der ersten Bauphase aber die topografischen Verhältnisse vor Ort, insbesondere die steile Hanglage. Zur Vorbereitung der Gründungssohlen für die Fundamente wurden etwa 3.000 kg Schwarzpulver und Dynamit benötigt.
Die Fundamente für den Bogen haben Abmessungen von jeweils 15 x 8 x 4,5 m. Allein diese vier Fundamente haben also ein Volumen von ca. 2.160 m³. Dazu kamen ca. 5.100 Tonnen Stahl für die Fachwerkkonstruktion, für deren Verbindung etwa 950.000 Niete benötigt wurden. Um das Material in dem unwegsamen Gelände möglichst dicht an die Baustelle heranzubringen, wurden die Gleise aus beiden Richtungen schon bis unmittelbar vor den Brückenstandort verlegt. Außerdem wurde eine temporäre Behelfsbrücke über die Wupper angelegt, die sich direkt unter dem größeren Bauwerk befand. So konnten die schweren Eisenbauteile mit Kränen nach oben gezogen und dort verbaut werden. Die Montagebrücke hatte eine Länge von etwa 200 m und bot Platz für zwei Schmalspurgleise.
Bis auf die Fundamente und die Widerlager besteht die Müngstener Brücke vollständig aus Stahl. Die Müngstener Brücke war die erste große Brücke in Deutschland, die komplett aus basischem Flusseisen besteht. Alle Bleche wurden aus Martineisen hergestellt, während die Stäbe aus Thomaseisen bestehen. Holz wurde an keiner Stelle verwendet, auch nicht für das Gleisbett oder als Unterlage für die Schienen. Alle Eisenteile wurden im Werk der MAN in Gustavsburg hergestellt. Um eine größtmögliche Präzision zu gewährleisten, legte man die Einzelteile des Bogens bereits hier in einer großen Halle millimetergenau zusammen und bohrte in diesem Zustand die Nietlöcher. Anschließend wurden die Teile auf den Werkplatz in Schaberg gebracht und dort soweit wie möglich vormontiert.
Der Bogen wird im Werk Gustavsburg vormontiert, um die Nietlöcher mit der größtmöglichen Präzision zu bohren. © MAN |
Rieppels Ziel war es, die Arbeiten auf der Brücke (vor allem die Nietarbeit)soweit wie möglich zu beschränken. Die Arbeit in großer Höhe stellte nicht nur eine große Gefahr für die Arbeiter dar, sondern war auch viel schwerer exakt und sorgfältig zu erledigen als unter den geordneten Bedingungen eines ebenerdigen und überdachten Werkplatzes. Dies gilt umso mehr, als der Bogen größtenteils in den Wintermonaten 1896/97 montiert wurde.
Die Müngstener Brücke war eine der ersten Stahlbrücken Die erste Stahlbogenbrücke die im Freien Vorbau errichtet wurde, war die Brücke über den Mississippi die von James Eads 1874 in St. Louis vollendet wurde ('Eads Bridge'). Auch die Maria Pia Brücke in Lissabon (1877) und der Garabit-Viadukt (1884), beide von Gustave Eiffel, wurden nach diesem Verfahren gebaut. Die an vielen Stellen aufgestellte Behauptung, bei der Müngstener Eisenbahnbrücke handele es sich um die erste 'Großbrücke' der Welt, die im freien Vorbau errichtet wurde, ist also falsch. in Deutschland, die im freien Vorbau errichtet wurden. Das klassische Verfahren zum Bau einer Bogenbrücke bestand über viele Jahrhunderte in der Verwendung eines Lehrgerüsts, welches den Bogen stützt bis er vollständig geschlossen ist und seine Tragfähigkeit entfalten kann. Der freie Vorbau mit einer Rückverankerung durch Stahlseile hat den Vorteil, dass auf das teure und aufwändige Lehrgerüst verzichtet werden kann. Gerade bei der Müngstener Brücke hätte ein Lehrgerüst mit einer Spannweite von 170 m und einer Höhe von 107 m einen enormen Aufwand bedeutet. Allerdings hat der Bogen bei diesem Verfahren keine Gelenke, sodass die Konstruktion als Ganzes die angreifenden Kräfte aufnehmen muss, einschließlich der durch Temperaturschwankungen entstehenden Längenänderungen der Stahlbauteile (Dilatation).
Die Ausführung des Bogens im Freivorbau bedingte eine bestimmte Reihenfolge im Bauablauf, weil die notwendigen Rückverankerungen über die fertigen Nebenfelder führen mussten. Die beiden Bogenhälften und der horizontale Träger darüber wurden gleichzeitig vom Pfeilersockel ausgehend montiert. Die gerade benötigten Bauteile wurden auf die Montagebrücke gefahren und mit Kränen, die auf dem Tragwerk verschiebbar befestigt waren, nach oben gezogen und dort vernietet. Durch den Verzicht auf das Leergerüst wurden nicht nur erhebliche Kosten eingespart, sondern auch eine für die damalige Zeit außerordentlich kurze Bauzeit realisiert.
Das Prinzip des 'Freien Vorbaus': der teilweise fertiggestellte Bogen wird von einer schrägen Rückverankerung (U) gehalten. Die dadurch entstehenden Horizontalkräfte werden mittels Verankerung (C-K) unter der Masse des Widerlagers in den Untergrund abgeleitet.
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Es war sicherlich kein Zufall, dass der Bogen am 22. März 1897 durch das letzte der ca. 950.000 Niete geschlossen wurde. Da dies der 100. Geburtstag des verstorbenen Kaisers Wilhelm I (1797- 1888) war, wurde das Bauwerk auf den Namen "Kaiser-Wilhelm-Brücke" getauft. Der Name 'Müngstener Brücke' setzte sich erst nach dem Ende der Kaiserzeit im allgemeinen Sprachgebrauch durch. Am Tag nach dem Bogenschluss wurde unter großer Teilnahme der Bevölkerung ein Richtfest gefeiert, bei dem der Geheimrat Brewitt von der königlichen Eisenbahndirektion in Elberfeld konstatierte: "Dem Gemeinwohl zur Förderung, dem Verkehr zur Erleichterung, der Technik zur Anerkennung".
Am 3. Juli 1897 fuhr die erste mit Kränzen geschmückte Lokomotive über die Brücke. Direkt anschließend wurde eine ausführliche Belastungsprobe durchgeführt, die insgesamt vier Tage in Anspruch nahm. Dafür wurden zwei Züge zusammengestellt, die jeweils aus drei schweren Lokomotiven und 40 angehängten schwer beladenen Wagen bestanden. Die Züge wurden in verschiedenen ungünstigen Laststellungen auf der Brücke positioniert, während man an den neuralgischen Punkten des Bauwerks die Verformung der Stahlteile und die Vibrationen überwachte. Die maximale Durchbiegung des Bogens unter dieser gewaltigen Last betrug ganze 15,4 mm.
Am 15. Juli 1897 war für die Städte Solingen und Remscheid aber auch für die ganze Region der große Tag gekommen: 'ihre' Brücke wurde feierlich eingeweiht. In großer Zahl strömten die Einwohner der beiden Städte zur Brücke, um diesem historischen Ereignis beizuwohnen. Den Gästen wurden viele Reden, Blasmusik und kulinarische Leckereien geboten. Natürlich hatte man auch den regierenden Kaiser Wilhelm II (1859 - 1941) zur Einweihung eingeladen. Dieser ließ sich aber zum Leidwesen vieler Ehrengäste und Zuschauer vom Prinzen Leopold von Preußen vertreten. Es wird vermutet, dass der Kaiser etwas 'verschnupft' war, weil die Brücke nicht nach ihm, sondern nach seinem Großvater benannt worden war. Erst zwei Jahre später besuchte der Kaiser die Brücke höchstpersönlich, was die Remscheider und Solinger dazu veranlasste, die gesamten Feierlichkeiten noch einmal mit allem Pomp zu wiederholen.
Der Bogen wurde von den beiden Lagerpunkten ausgehend gleichzeitig montiert. Oben die schrägen Abspannungen zur Fixierung der Bogenhälften, bis zum Bogenschluss. © MAN |
Durch den kostensenkenden Freivorbau wurde der Kostenanschlag der Eisenbahnverwaltung mit 2,64 Millionen Goldmark mühelos eingehalten. Hinzu kamen allerdings noch die Grunderwerbskosten in Höhe von 1,6 Mio. Goldmark, die größtenteils von den Städten Solingen und Remscheid übernommen wurden.
Bis zu 160 Arbeiter waren gleichzeitig auf der Baustelle beschäftigt. Obwohl es zu dieser Zeit kaum Sicherheitsvorkehrungen wie z.B. Auffangvorrichtungen oder Schutzhelme gab, wurden 'nur' 6 Arbeiter bei den vierjährigen Bauarbeiten getötet. Ende des 19. Jahrhunderts galt dies jedoch als ein hinnehmbarer Blutzoll angesichts eines so großen Projektes. Allerdings dürfte die Zahl der bei Unfällen verletzten Arbeiter noch weit höher gewesen sein.
Die Bauarbeiten wurden in in- und ausländischen Fachkreisen mit größtem Interesse verfolgt, denn die Müngstener Eisenbahnbrücke galt damals als hochmodern, sowohl was die statische und architektonische Ausarbeitung des Entwurfs anbelangte, als auch die ökonomische und schnelle Bauausführung. Auch in der preußischen Machtzentrale in Berlin war man sehr stolz auf die neue Brücke und sah sie als einen erneuten Beweis des hohen Niveaus im deutschen Ingenieurbau. Bei der Weltausstellung des Jahres 1900 in Paris wurde ein Modell der Brücke im deutschen Pavillon ausgestellt.In der Fachwelt erregten die Bauarbeiten an der Müngstener Talbrücke weit über die Grenzen Deutschlands hinaus großes Aufsehen, denn auch im internationalen Vergleich handelte es sich um eine nicht alltägliche Baumaßnahme. In vielen Fachpublikationen wurde über den Baufortschritt und die angewandten Verfahren berichtet.
Wie fast alle großen Brücken Deutschlands geriet auch die Müngstener Eisenbahnbrücke gegen Ende des zweiten Weltkrieges zwischen die Fronten der Kriegsparteien. In mehreren Nächten des Jahres 1943 versuchten britische Bomber sie zu zerstören. Um dies zu erschweren, wurden im ganzen Wuppertal von Kohlfurth bis Schloss Berg Nebelbomben gezündet. Die Taktik funktionierte und die Brücke überstand das Kriegsgeschehen nur leicht beschädigt. Einige Monate später sollte sie von deutschen Soldaten vor den heranrückenden Amerikanern gesprengt werden. Diese militärisch wie ökonomisch sinnlose Tat wurde nach diversen Legenden aber von beherzten Soldaten und Zivilisten verhindert, indem Informationen nicht weiter gegeben wurden oder die Ausführung von Befehlen verzögert wurde.
Kurz vor dem Bogenschluss. Unten im Bild: die Behelfsbrücke. © MAN |
Mehr als 60 Jahre nach ihrer Vollendung wurde unter der Brücke eine Gedenktafel enthüllt, mit der die wichtigsten Persönlichkeiten beim Bau der Brücke geehrt wurden. Dies waren auf Seiten der Eisenbahndirektion Elberfeld u.a. der Geheime Baurat Brewitt, der Regierungsbaumeister Carstanjen Maximilian Carstanjen (1856 - 1942) war zu diesem Zeitpunkt Regierungsbaumeister bei der preußischen Eisenbahnverwaltung und hatte in dieser Funktion den ersten Wettbewerbsentwurf für die Müngstener Brücke ausgearbeitet. Durch die gemeinsame Tätigkeit wurde Rieppel auf ihn aufmerksam und holte ihn noch während der Bauarbeiten an der Müngstener Brücke in das Werk Gustavsburg der MAN. und von der Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg Direktor Rieppel und Ingenieur Bilfinger.
Die ganze Region - aber vor allem natürlich die Bevölkerung der Städte Solingen und Remscheid - feiern regelmäßig die runden Geburtstage des Bauwerks. In Erinnerung ist besonders das 100-jährige Bestehen der Brücke im Jahr 1997, mit offiziellem Festakt sowie zahlreichen Besuchern und viel Prominenz. Höhepunkt der Veranstaltung war eine Lasershow, in deren Mittelpunkt das ehrwürdige Bauwerk stand. Auch der Deutschen Post war dieses Jubiläum wichtig genug, um eine Sondermarke mit dem Wert 100 Pfennige herauszugeben.
Das Deutsche Museum in München widmet dem Bauwerk in seiner Brückenabteilung seit vielen Jahren einen eigenen Bereich, in dem unter anderem ein Diorama von den Bauarbeiten ausgestellt ist. Das Modell im Maßstab 1:100 ist eine Stiftung der Fa. MAN und zeigt die Brücke kurz vor Vollendung des Bogens.
Weit über 100 Jahre lang trug die Müngstener Brücke mehr als 2 Millionen Züge sicher und zuverlässig über das Tal der Wupper. In dieser Zeit entwickelte sich der Eisenbahnverkehr allerdings sowohl qualitativ als auch quantitativ erheblich weiter. Gewisse Verschleißerscheinungen waren daher auf Dauer unvermeidlich.
Der Austausch des kompletten Fahrbahnträgers (blau) und der 28 Rollenlager. © Deutsche Bahn AG |
Seit 2011 führt die Deutsche Bahn AG eine Generalsanierung des gesamten Bauwerkes durch. Ziel der umfangreichen Arbeiten ist die Erhaltung der Verkehrs- und Standsicherheit für die nächsten Jahrzehnte. Zu den bereits durchgeführten Maßnahmen gehört der Austausch des kompletten Fahrbahnträgers. Der Fahrbahnträger ist der horizontale Unterbau für Gleisbett und Schienen. Er stützt sich auf die sogenannte 'Gerüstbrücke'. Der neue Fahrbahnträger besteht aus einer modernen Stahlsorte und wurde im Gegensatz zu den ursprünglichen Bauteilen geschweißt.
Auch die 28 Rollenlager am oberen Ende der vertikalen Pfeiler auf denen der Träger beweglich aufliegt, wurden dabei ausgetauscht. Die Lager sind von ihrer Geometrie her fast mit den ursprünglich verbauten Lagern identisch, bestehen aber aus einer wesentlich wiederstandfähigeren Stahlsorte. Nach dem Austausch des Trägers wurden auch neue Schwellen, Schienen und Geländer eingebaut.
Bis 2018 sollen die restlichen Arbeiten der Sanierungsmaßnahme beendet werden. Dazu gehört eine Überprüfung aller verbleibenden Stahlteile mit Austausch der beschädigten Niete, Muttern und Schrauben. Anschließend erhält die gesamte Stahloberfläche einen neuen Korrosionsschutz. Dafür muss das gesamte Eisenwerk zunächst einmal gesandstrahlt werden, um anschließend mit insgesamt vier Schutz- und Deckschichten angestrichen zu werden. Damit keine schädlichen Stoffe in die Umwelt gelangen, müssen die jeweiligen Abschnitte vollständig eingehaust werden.
Die Deutsche Bahn AG geht von Sanierungskosten in Höhe von ca. 30 Millionen Euro aus. Auch wenn es sehr schwierig ist zwischen der damaligen und der heutigen Währung umzurechnen, ahnt man doch, dass die Sanierungskosten der Brücke ein Vielfaches der damaligen Baukosten betragen wird.
Eines der alten Rollenlager vor dem Austausch. Die neuen Rollenlager sehen prinzipiell genauso aus (siehe Bild oben). © Michael Tettinger |
Während der bauliche Zustand der Brücke mit der Zeit immer schlechter wurde, nahm ihre strategische Bedeutung im Netz der Deutschen Bahn AG langsam ab. Für das Unternehmen wurde das Verhältnis zwischen Kosten und Nutzen der Brücke zunehmend ungünstiger. Denn je älter ein solches Bauwerk aus dem Industriezeitalter wird, umso mehr steigen seine Unterhaltungskosten.
Der Konflikt lag auf der Hand: für die Bahn wurde die Strecke immer unattraktiver, während die technisch-historische Bedeutung der Müngstener Brücke eher zunahm. Die Deutsche Bahn befand sich (nicht nur im Fall der Müngstener Brücke) in einem Dilemma: einerseits verlangten die Kunden, die Aktionäre, die Politik und die Öffentlichkeit eine ökonomische Betriebsführung, während fast alle der genannten Gruppen auch eine Verantwortung für historische Bauwerke wie die Müngstener Brücke einforderten.
Die politischen Gremien der Region erkannten schon sehr frühzeitig, dass sie das weitere Schicksal der Müngstener Brücke nicht alleine der Bahn überlassen können. Bereits am 6. Mai 1985 wurde die Müngestener Brücke unter nationalen Denkmalschutz gestellt. Eine solche Nominierung verhindert einerseits den Abbruch der Brücke und sichert gleichzeitig Mittel für ihre zukünftige Unterhaltung. Seit einigen Jahren versuchen die Städte Solingen, Remscheid und Wuppertal aber noch einen Schritt weiter zu gehen, indem sie auch für die Aufnahme in das UNESCO-Weltkulturerbe vorgeschlagen wurde.
Name der Brücke | Ort | Land | Baujahr | Entwurf |
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Ponte Maria Pia | Porto | Portugal | 1877 | Theophile Seyrig Theophile Seyrig und Maurice Koechlin waren Mitarbeiter in der Eisenbaufirma Gustave Eiffels |
Garabit-Viadukt | Saint Flour | Frankreich | 1884 | Maurice Koechlin |
Ponte Luiz I | Porto | Portugal | 1886 | Theophile Seyrig |
Ponte San Michele | Paderno / Calusco | Italien | 1889 | Jules Röthlisberger |
Müngstener Brücke | Remscheid / Solingen | Deutschland | 1897 | Anton Rieppel |
Die erste Bewerbung im Jahr 2006 wurde schon auf der untersten Entscheidungsebene von der Bauverwaltung Nordrhein-Westfalens wegen mangelnder Aussicht auf Erfolg zurückgewiesen. Im Zusammenhang mit dieser Bewerbung wurde das Gelände unterhalb der Brücke von den beteiligten Städten in einen 'Brückenpark' umgestaltet. Ziel der Initiative war die Herausstellung der historischen und technischen Bedeutung des Bauwerkes. Unter anderem wurde die vorher wenig einladende Umgebung rund um die Brücke durch die Einrichtung einer Schwebefähre deutlich attraktiver gestaltet.
Die Zurückweisung des ersten Weltkulturerbe-Antrages enthielt auch einen konstruktiven Ansatz. Der Vorschlag, die technische Bedeutung der Brücke in einen größeren, europäischen Kontext zu stellen, scheint nun mehr Aussicht auf Erfolg zu haben. Es gibt nämlich noch weitere Städte in Europa, in denen es ganz ähnliche Bauwerke aus der gleichen Epoche gibt. Diese Städte haben im Prinzip die gleichen Probleme mit der weiteren Nutzung dieser Bauwerke, vor allem mit der Finanzierung der Unterhaltungskosten. Das Ergebnis dieser Überlegungen ist nun eine gemeinsame Bewerbung dieser europäischen Städte mit ihren Bauwerken.
Ein Zug der Deutschen Bundesbahn auf der Müngstener Brücke © Ulrich Riemer |
Der Startschuss für die erneute Bewerbung fiel im Oktober 2017 mit einem internationalen Fachkongress, der direkt unterhalb der Brücke im 'Müngstener Haus' stattfand. Die beteiligten Gremien werden allerdings einen langen Atem brauchen, denn vor dem Jahr 2022 ist noch nicht einmal mit einer Aufnahme in die Nominierungsliste der UNESCO zu rechnen. Und auch danach wird es etwa weitere 10 bis 15 Jahre dauern, bis eine entsprechende Entscheidung getroffen wird.
Im Interesse des weiteren Bestehens der Müngstener Brücke kann man den mutigen Akteuren der beteiligten Städte nur allen möglichen Erfolg wünschen. Technisch interessierten Mitbürgern kann man nur empfehlen, sich dieses Zeugnis deutscher Ingenieurskunst mit eigenen Augen anzusehen. Warten sie bis ein Zug kommt und hören sie sich die beeindruckende Geräuschkulisse der Eisenbahn an... oder noch besser: lösen sie im Bahnhof von Solingen oder Remscheid ein Ticket und fahren sie mit der Eisenbahn über die Brücke!
Für technisch oder kulturhistorisch interessierte Menschen ist die Müngstener Brücke immer einen Besuch wert, sei es mit oder ohne das Siegel der UNESCO.
Quellen:
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