In den ersten Tagen des März 1896 trat in Süddeutschland jene gefürchtete Wetterlage ein, die das Potential zu besonders schweren Hochwasserschäden hat. Zeitgleich mit tagelangen Regenfällen setzte in den Höhenlagen des Allgäu die Schneeschmelze ein, sodass sich im Flusslauf der Argen eine gewaltige Hochwasserwelle talabwärts bewegte. Kurz vor der Mündung in den Bodensee gab es damals bei Langenargen eine Holzbrücke mit vier Strompfeilern, die den Urkräften des Wassers nur wenig entgegenzusetzen hatte. Das Bauwerk an der Landstraße von Friedrichshafen nach Lindau war damals aber insgesamt in einem guten Zustand. Es hatte Stützpfeiler aus Mauerwerk und seit 1841 sogar eine vollständige Überdachung zum Schutz des hölzernen Trägers.
Am schnellsten wäre der Schaden natürlich zu beheben gewesen, indem man die zerstörte Brücke auf den vorhandenen Pfeilerfundamenten und in der gleichen Weise wieder aufgebaut hätte. Das erschien den verantwortlichen Behörden in Stuttgart angesichts der gerade erlebten Naturgewalten aber nicht ratsam, und man begann über Varianten nachzudenken, mit deren Hilfe man ganz auf die Stützen im Fluss verzichten könnte.
Seit 1891 war der aus Ludwigsburg stammende Karl von Leibbrand Präsident der Abteilung für Straßen- und Wasserbau im Königlich-Württembergischen Innenministerium. Leibbrand hatte sich in dieser Funktion bereits drei Jahre vorher einen Namen als Brückenbauer gemacht, als er in Munderkingen die damals längste freitragende Betonbrücke Deutschlands errichtet. Es war daher nicht weiter erstaunlich, dass für die Argenbrücke am Bodensee zunächst ebenfalls eine flache, 65 Meter weit gespannte Bogenbrücke aus Beton vorgeschlagen wurde. Bogenbrücken benötigen jedoch tragfähige Bodenschichten an den Ufern, damit die Querkräfte aus dem Bogen abgetragen werden können. Da diese Bedingungen nicht gegeben waren, hätte man kostspielige Tiefgründungsverfahren durchführen müssen und entschied sich schließlich gegen die Bogenbrücke.
Die beiderseitigen massiven Stahlgelänger versteifen die Fahrbahn gegen Durchbiegung sowie wellenförmige Verformungen beim Übergang einer schweren Last. © Bernd Nebel |
Karl von Leibbrand wandte sich daher einer anderen und auch für ihn bis dahin durchaus neuen Konstruktionsweise zu: den Hängebrücken. Bis zu diesem Zeitpunkt waren Hängebrücken in Deutschland fast ausschließlich als Kettenbrücken verwirklicht worden. Obwohl man z.B. in Nachbarländern wie Frankreich und der Schweiz von Anfang an auf Drahtkabel vertraute, hatte man in Deutschland derartige Versuche lange Zeit gescheut. Als man mit dem Bau der Argenbrücke begann, gab es erst zwei Drahtkabelbrücken in Deutschland, die beide für Fußgänger bestimmt waren. Gleichzeitig mit der Argenbrücke wurde in Hann. Münden die 'Blaue Brücke' über die Fulda gebaut, ebenfalls eine reine Fußgängerbrücke.
Aus internationaler Sicht begann sich zu dieser Zeit bereits abzuzeichnen, dass die Verwendung von Drähten handfeste Vorteile gegenüber Kettenbrücken hat. 1 Je größer die Spannweiten bei Kettenbrücken wurden, umso schwerer waren auch die Ketten und umso mehr spielte ihre komplizierte Montage eine entscheidende Rolle. Meist wurde die vormontierte Kette auf einem Floß unter der Brücke in Position gebracht, welches durch Verankerungen an Land fixiert wurde. Von dem schwankenden Floß aus wurden die Ketten abschnittsweise mit Flaschenzügen und Seilwinden nach oben gehievt und mit den bereits an den Sätteln befestigten Kettenstücken verbunden.
Name: | Ort: | Baujahr: | Spannweite: | Verkehrsart: |
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Löwenbrücke | Berlin | 1838 | 17 m | Fußgänger |
Drahtbrücke | Kassel | 1870 | 84 m | Fußgänger |
Seilbrücke | Wetter / Ruhr | 1893 | 52 m | Fußgänger |
Argenbrücke | Kressbronn | 1898 | 72 m | Kraftfahrzeuge |
Blaue Brücke | Hann Münden | 1898 | 70 m | Fußgänger |
Die Drahtkabel boten hingegen den Vorteil, dass sie einen gleichmäßigen Querschnitt hatten, sodass man sie mit entsprechenden Gerätschaften über die Pylonen ziehen konnte. Aber auch dieser Vorgang wurde mit zunehmenden Spannweiten und Kabeldurchmessern immer schwerer durchführbar. Später kamen "Paralleldrahtkabel" in Gebrauch, bei denen jeder Draht einzeln über die Pylone gezogen wurde. Wenn alle Drähte an Ort und Stelle waren, wurden sie zu einem einzigen dicken Kabel zusammengepresst und nochmals mit Draht umwickelt. Mit zunehmenden Spannweiten dauerte der Vorgang des "Kabelspinnens" zwar immer länger, war aber theoretisch auf beliebig große Spannweiten anwendbar.
Der Aufbau des Spiraldrahtkabels für die Langenargener Brücke, geliefert von der Fa. Felten & Guilleaume.
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Bei der Langenargener Brücke war es aufgrund der relativ geringen Spannweite noch möglich, vorgefertigte, "gedrehte" Spiralkabel zu verwenden, die im Prinzip wie Hanfseile hergestellt wurden. Man kann die seilartige Struktur der Kabel auch heute noch sehr gut erkennen. Paralleldrahtkabel haben hingegen meist eine glatte Oberfläche ohne erkennbare Strukturen. Allerdings sollte sich bei der Montage der Kabel zeigen, dass man in Langenargen bereits sehr nah an die Einsatzgrenzen eines Spiraldrahtkabels herankam.
Der erste Anstoß die Langenargener Brücke als Drahtkabelbrücke auszuführen, kam von der Maschinenfabrik Esslingen bzw. deren Mitarbeiter Julius Kübler. Kübler hatte mit Entwürfen für Drahtbrücken bereits bei zwei internationalen Wettbewerben Preise gewonnen, die jedoch beide nicht zur Ausführung gelangten. Einer davon war für die erste Donaubrücke in Budapest bestimmt, deren Spannweite viermal so groß war, wie die der Langenargener Brücke. Trotz des gewonnenen Preises wurde in Budapest aber schließlich eine Kettenbrücke errichtet, weil die Lieferung der Drahtkabel in entsprechender Qualität in Ungarn Schwierigkeiten bereitet hätte. 2
Die Bauarbeiten an der Argenbrücke begannen (nach dem Entwurf Küblers) im November 1896. Zunächst wurden die Baugruben für die vier Pylonen ausgehoben, die eine Höhe von jeweils 18 m erhielten, wovon sich 12,5 m oberhalb des Trägers befinden. Die Pylonen selbst wirken auf den ersten Blick wie perfekt profiliertes Natursteinmauerwerk, bestehen in Wirklichkeit aber aus Beton, der in einer entsprechenden Schalung in einem Guss hergestellt wurde. In den Spitzen der Pylonen befinden sich Aussparungen, durch welche die Kabel hindurchlaufen. In den Aussparungen sind 85 cm lange gusseiserne Sättel montiert, die jeweils auf sechs Rollen gelagert sind, um kleine Bewegungen der Kabel auszugleichen.
Die Pylonenspitze mit der Öffnung für den Kabeldurchgang. Der Sattel mit den Rollenlagern ist heute durch eine Verkleidung geschützt. © Herrad Taubenheim |
Die Bauarbeiten wurden im Wesentlichen von der Maschinenfabrik Esslingen ausgeführt und von dort kamen auch die Eisenbauteile für den ausgesteiften Träger. Die Drahtkabel selbst lieferte aber die Firma Felten & Guilleaume, die sich in ihrem Carlswerk in Mühlheim auf die Herstellung von speziellen Stahlseilen konzentrierte. Die Kabel wurden im Walzwerk vorgefertigt und auf eigens angefertigten Holztrommeln mit 3 m Durchmesser zur Baustelle transportiert.
Jedes der beiden Drahtkabel für die Brücke bei Langenargen besteht aus insgesamt 259 Einzeldrähten die zu sieben sogenannten "Litzen" zusammengedreht sind. Die äußeren sechs Litzen bestehen aus jeweils 37 Drähten mit Durchmessern von 6,1 mm. Die innere Litze ("Seele") besteht aus der gleichen Anzahl von Drähten mit 6,3 mm Durchmesser. Das Kabel hat insgesamt einen Durchmesser von 13,3 cm. Zum damaligen Zeitpunkt stand noch keine Prüfmaschine zur Verfügung, die eine ausreichende Kraft besessen hätte, um ein solches Kabel zu zerreißen. Die Materialprüfungsanstalt in Stuttgart war daher gezwungen, sich auf Zugversuche an zufällig ausgewählten Einzeldrähten zu beschränken.
Die beiden 130 m langen Kabel waren durch ihre Abmessungen sehr steif und es soll gehörige Schwierigkeiten bereitet haben, sie exakt in die vorgesehene Position zu bringen. Um sie mit gleichmäßiger Geschwindigkeit über die Pfeiler zu ziehen, bedurfte es einer entsprechend großen Kraft, die während dieses Vorganges natürlich auch einen erheblichen Horizontalschub auf die Pylonspitzen ausübte. Um das Risiko für die Pfeiler zu minimieren, ließ man die hölzerne Betonschalung während der Kabelmontage noch stehen.
Der Abstand der beiden Kabel ist in Brückenmitte, also an ihrem tiefsten Punkt, geringer als an den Pylonspitzen, sodass die Seilebenen nach innen geneigt sind. Die senkrechten Hänger, an denen der Träger aufgehängt ist, bestehen aus 4 cm starken massiven Rundstäben. Die Verankerung der Kabel erfolgte in unterirdischen, begehbaren Betonkammern, die hinter jedem Pylon in einem Abstand von 20 m angelegt wurden.
Eine der Befestigungsmanschetten für die senkrechten Hänger. Letztere bestehen aus Rundstählen und greifen mit ihrem unteren Ende am Versteifungsträger an. © Bernd Nebel |
Nachdem sich alle Kabel und Hänger in der richten Lage befanden, konnte man mit der Montage des ausgesteiften Trägers beginnen. Dazu wurden im Abstand von 2,85 m fachwerkartige Querträger an den Hängern befestigt, die an ihrer Unterseite parabelförmig geformt sind. Darüber befinden sich fünf auf die Fahrbahnbreite verteilte Längsträger und darüber wiederum die Fahrbahn. Diese bestand ursprünglich aus längsverlegten Holzplanken, die inzwischen aber durch Asphalt ersetzt wurden.
Ende 1897 war die Brücke im Wesentlichen fertiggestellt, sodass der feierlichen Eröffnung nichts mehr im Wege stand, die dann am 25. Januar 1898 stattfand. Von der Einweihung existieren einige historische Fotos, auf denen unter anderem Julius Kübler und Karl von Leibbrand zu sehen sind. Gegen Ende der Bauarbeiten soll der 18-jährige, später weltberühmt gewordene Brückenbauer Othmar Ammann einige Wochen lang als Praktikant auf der Baustelle tätig gewesen sein. 3
Einer breiteren Öffentlichkeit sowie dem internationalen Fachpublikum wurde die Langenargener Drahtkabelbrücke vor allem durch die Weltausstellung 1900 in Paris bekannt. Als deutscher Beitrag präsentierten sich bei dieser Leistungsschau die sechs damals wichtigsten deutschen Brückenbaugesellschaften. Dabei stellte die Maschinenfabrik Esslingen die Langenargener Brücke u.a. mit einem Modell vor.
Zum Zeitpunkt ihrer Eröffnung wurde das deutsche Straßenbild fast ausschließlich von Postkutschen und Pferdefuhrwerken beherrscht, aber schon einige Jahre später begann sich auch in Deutschland das Automobil als individuelles Fortbewegungsmittel zu etablieren. 4 Knapp 100 Jahre lang trug die Drahtkabelbrücke den immer mehr anschwellenden Fahrzeugstrom und die schwerer werdenden Lastkraftwagen, bis in den 1970er Jahren klar wurde, dass sie den steigenden Anforderungen nicht mehr länger gewachsen ist.
Jeder der stählernen Querträger ist auf den Seiten an einem vertikalen Stahlkabel aufgehängt. Der hier von unten zu sehende Fahrbahnträger bestand ursprünglich aus Holzplanken. © Bernd Nebel |
Anders als an vielen Orten in Deutschland erkannten die Verantwortlichen aber schon damals den historischen und touristischen Wert dieser Brücke. So wurde sie erfreulicherweise nicht kurzerhand durch ein moderneres Bauwerk ersetzt, sondern man bewahrte die historische Bausubstanz, verlegte die Straße um einige Meter flussabwärts und errichtete dort eine neue Straßenbrücke.
Seit einer gründlichen Sanierung in den Jahren 1982/ 83 steht sie nunmehr als Attraktion des Rad- und Fußwegenetzes in der Region Bodensee den aktiven Touristen zur Verfügung. So mancher zufällig vorbeikommende Radfahrer lässt sich die Gelegenheit nicht entgehen, um sich bei einer kurzen Rast dieses einmalige technik-geschichtliche Exponat deutscher Ingenieurskunst etwas genauer anzusehen. Aber auch wer mit dem Auto am Bodensee unterwegs ist, kann die Drahtkabelbrücke bequem besichtigen, denn sie befindet sich direkt an der Landesstraße 334. Parkplätze sind auf beiden Seiten der Brücke ausreichend vorhanden, sodass einer interessanten Unterbrechung der Reise nichts im Wege steht. Und das - wie fast immer bei Brücken - völlig kostenlos!
1 So war z.B. bereits 1883 in New York die Brooklyn Bridge mit Drahtkabeln eingeweiht worden, die seither mit Abstand die größte Brücke der Welt war. Spätestens mit diesem Bauwerk war der Beweis erbracht, dass Drahtbrücken den Kettenbrücken überlegen sind.
2 Die Donaubrücke hieß während ihres Baus "Schwurplatzbrücke", wurde aber nach dem plötzlichen Tod der österreich-ungarischen Kaiserin ("Sissi") in Elisabethbrücke umbenannt. Am 18.01.1945 wurde sie von deutschen Soldaten gesprengt und danach nicht mehr aufgebaut.
3 Müller-Thoma gibt als Quelle für diese Information den ehemaligen Schulleiter Hämmerle aus Kressbronn an: "Am Bau tätig war Werkmeister Waldmann und zeitweise Othmar Amman aus Schaffhausen als Volontär". Othmar Ammann ging im Anschluss an sein Studium nach Amerika und war u.a. maßgeblich am Bau der Bayonne Bridge (1931), der George Washington Bridge (1931) und der Verrazano Narrows Bridge (1964) beteiligt. Beim Bau der Golden Gate Bridge fungierte er als technischer Berater für Joseph B. Strauss.
4 Wenige Monate vor der Eröffnung der Argenbrücke fand in Berlin die erste internationale Automobilausstellung statt.