Die Geschichte der Baustatik

"Auf der Suche nach dem Gleichgewicht"

von Karl-Eugen Kurrer



Wenn angehende Bauingenieure heute in ihren Statik-Klausuren schwitzen, sehen sie sich mit einem mathematisch und physikalisch komplexen Thema konfrontiert, dem sie mit modernsten Berechnungsverfahren und der aktuellsten Computertechnologie zu Leibe rücken. Aber ahnen sie auch etwas von der langen Entwicklungsgeschichte dieser Fachdisziplin, angefangen mit den Gedankenexperimenten eines Leonardo da Vinci oder eines Galileo Galilei? Wissen sie etwas über die teilweise kontroversen Theorien, Rückschläge und Richtungsstreitigkeiten, die es im Laufe der Jahrhunderte in der Statik gab?

Wer sich zur Entwicklung der Baustatik näher informieren wollte, suchte einst vergeblich nach einer systematischen Darstellung dieses Themas. Diese Lücke hat Karl-Eugen Kurrer aber bereits 2002 mit der ersten Auflage seiner "Geschichte der Baustatik" geschlossen. Der Bedarf war offenbar groß, denn die gesamte Ausgabe war schnell vergriffen. Die nun vorliegende zweite Auflage ist eine vollständige Überarbeitung und wesentliche Erweiterung der Originalausgabe. Das lässt schon der Umfang des Werkes erahnen: hatte die erste Auflage immerhin schon 540 Seiten, hat sich die zweite Auflage mit 1188 Seiten noch einmal mehr als verdoppelt.

Statik ist eine Teildisziplin der Mechanik, ebenso wie die Dynamik, die sich vor allem mit Bewegung, Beschleunigung und den daraus resultierenden Kräften beschäftigt. Die Statik hingegen ist die Lehre von der Ruhe. Wenn die Summe aller an ein Bauwerk angreifenden Kräfte gleich Null ist, dann neutralisieren sich auch die Drehmomente gegenseitig und das Bauwerk befindet sich in Ruhe. D.h., es bewegt sich in keine Richtung und steht sicher und fest auf seinem Fundament.

Die Geschichte der Baustatik beginnt zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kulturkreisen unabhängig voneinander. Überall wo ein Bauwerk errichtet werden sollte, überlegten sich die frühen Baumeister, wie dieses beschaffen sein muss, damit es gefahrlos benutzt werden kann. In dieser frühesten Phase der Baustatik ging es um Empirie, um Erfahrungswerte. Der beste Baumeister war derjenige, der aufgrund seiner langen Berufstätigkeit am besten abschätzen konnte, was man einem bestimmten Baumaterial zumuten konnte oder wie stark ein Bauwerksteil sein musste, um der erwarteten Belastung standzuhalten. Dabei spielte auch noch ein weiterer, ebenso 'menschlicher' Faktor ein Rolle: die persönliche Risikobereitschaft des Baumeisters. Diese stand in einem engen Verhältnis zu den Baukosten, denn je 'sicherer' ein Bauwerk war, umso teurer war es auch. Die individuelle Risikobereitschaft wurde im Laufe der Zeit aber immer mehr von vorgeschriebenen 'Sicherheitsfaktoren' abgelöst, die nur noch geringe Spielräume lassen.

In der Renaissance begannen Männer wie Leonardo da Vinci oder Galileo Galilei darüber nachzudenken, inwieweit die Faktoren Masse, Kraft, Erdbeschleunigung sowie Art und Stärke der Materialien, mit der Stabilität eines Bauwerkes zusammenhängen. An diesem Ausgangspunkt holt uns Kurrer ab und nimmt uns mit auf eine spannende Zeitreise durch die Geschichte der Baustatik, die etwa 1575 beginnt und bis in die heutige Zeit reicht. Und sie ist tatsächlich spannend, nicht frei von Rückschlägen aber letztendlich doch sehr erfolgreich und keineswegs am Endpunkt ihrer Entwicklung angelangt.

Gedankenexperiment zur Statik eines Kragträgers

Das Buch spannt einen Bogen vom geometrischen Denken der Renaissance über die klassische Mechanik bis hin zur modernen Strukturmechanik. Das Einführungskapitel eröffnet mit kurzen Einblicken in zwölf bekannte Berechnungsverfahren den Zugang zu über 500 Jahren Geschichte der Baustatik und Festigkeitslehre. Zur systematischen Gliederung des Themas grenzt der Autor vier Entwicklungsperioden voneinander ab, die wiederum in einzelne Phasen unterteilt sind. Die Gliederung beginnt mit der 250 Jahre fortwährenden 'Vorbereitungsperiode' (1575 bis 1825) und endet mit der 'Integrationsperiode', die bis heute andauert.

Kurrer geht auch der Frage nach, inwieweit neue Materialien, neue Erkenntnisse der Physik, Chemie und Mathematik, sowie steigende Anforderungen für Industriebauten, Hallen, Eisenbahnbrücken, Wolkenkratzer, Glasbauten usw., die Entwicklung der statischen Verfahren beschleunigt haben. Im Vergleich zur ersten Ausgabe sind insbesondere die Themen Erddrucktheorie, Traglastverfahren, historische Lehrbuchanalyse, Stahlbrückenbau, Schalentheorie, Computerstatik, Finite-Elemente-Methode, Computergestützte Graphostatik und Historische Technikwissenschaft hinzugekommen.

Ein durchaus bemerkenswerter Bestandteil des Buches ist auch der Anhang, mit einem Sach- und einem Personenregister sowie einer umfangreichen Bibliografie. Besonders interessant ist aber die Zusammenstellung von fast 250 Kurzbiografien der wichtigsten Protagonisten aus der Geschichte der Statik. Hier finden sich die Lebensläufe von so interessanten Persönlichkeiten wie Navier, Clapeyron, Cremona, Culmann, Dischinger, Emperger, Eytelwein, Gerstner, Hooke, Maillart, Melan, Müller-Breslau, Musschenbroek, Perronet, Ritter, Schwedler, Wren, Zuse, und viel mehr.

Das Buch ist im deutschsprachigen Raum das einzige umfassende und abgeschlossene Werk zur Geschichte der Baustatik. Seit 2008 gibt es auch eine erweiterte englischsprachige Ausgabe unter dem Titel: "The History of the Theory of Structures". Auch im englischsprachigen Raum ist Kurrers Buch praktisch konkurrenzlos.

Fazit: für jeden der sich für die Geschichte der Baustatik oder generell für die Geschichte des konstruktiven Bauens interessiert, ist dieses Buch ein 'must have'. Im Kanon der einschlägigen Literatur zum Thema 'Baugeschichte' hat es bereits jetzt einen Stellenwert wie etwa Hans Straubs "Geschichte der Bauingenieurskunst". Vermutlich wird auch die zweite Auflage schnell vergriffen, und anschließend nur noch für Liebhaberpreise im Antiquariat erhältlich sein.

Der Autor:

Dr.-Ing. Karl-Eugen Kurrer wurde am 10. August 1952 in Heilbronn geboren. Nach Realschule und Maurerlehre Studium des Allgemeinen Ingenieurbaus an der Staatsbauschule Stuttgart (heute Hochschule für Technik). Anschließend Bauingenieur im Ingenieurholzbau. Studium des Bauingenieurwesens und der Physikalischen Ingenieurwissenschaften an der TU Berlin; 1982 Diplomarbeit über die Entwicklungsgeschichte der Gewölbetheorie. Danach Promotion an der TU Berlin mit der Dissertation "Zur inneren Kinematik und Kinetik von Rohrschwingmühlen".

Ab Mitte der 1980er-Jahre Entwicklung des wissenschaftshistorisch akzentuierten Ansatzes der Bautechnikgeschichte für die Baustatik, der später zum Konzept einer Historischen Technikwissenschaft verallgemeinert wurde. Seit 1996 Leiter des VDI-Arbeitskreises "Technikgeschichte" in Berlin und Begründer einer Vortragsreihe am Deutschen Technikmuseum Berlin. Gründungsmitglied der deutschsprachigen Gesellschaft für Bautechnikgeschichte (2013).

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© Dipl.Ing. Bernd Nebel