Gemälde von William J. Bennett (1822)
1786 | Geburt in Annonay (Region Rhône-Alpes) |
1799 | Beginn des Studiums in Paris |
1820 | Rückkehr nach Annonay |
1822 | Bau einer kleinen Versuchsbrücke über die Cance |
1823 | Passerelle des Saint-Antoine / Genf |
1824 | Dampfschiff "Le Voltgeur" auf der Rhone |
1825 | Rhonebrücke bei Tournon |
1826 | Die Brüder Séguin erwerben die Rechte zum Bau der Eisenbahnstrecke St. Étienne - Lyon |
1826 | Das Buch "Ponts en Fil de Fer" ("Die Brücken aus Eisendraht") erscheint |
1827 | Studienreise nach England Rhônebrücke bei Andance |
1829 | Bau der ersten französischen Dampflokomotive |
1832 | Die Eisenbahnstrecke St. Etienne - Lyon geht in Betrieb |
1835 | Rückzug aus dem Unternehmertum |
1875 | Tod in Annonay |
Marc wurde 1786 als ältester Sohn des Tuchfabrikanten Marc Francois Seguin in Annonay (Département Ardèche) geboren. Seine Mutter Thérèse-Augustine de Montgolfier war eine Nichte der Brüder Montgolfier, die durch den ersten bemannten Aufstieg eines Heißluftballons im Jahr 1783 zu französischen Nationalhelden wurden. Der 8-jährige Marc Seguin wurde 1794 von seinem Vater auf das benachbarte Internat in Talencieux geschickt. 1799, jetzt 13 Jahre alt, zog er nach Paris, um am Konservatorium der Gewerbe und der Künste zu studieren. Hier begegnete er seinem inzwischen berühmt gewordenen Großonkel Joseph Montgolfier, der am Konservatorium Naturwissenschaften lehrte. Ab 1805 pendelte Marc zwischen Paris und Annonay hin und her, um seinem Vater in einer neu erworbenen Papierfabrik am Ufer des Cance zu helfen.
Erst 1820 kehrte Marc endgültig nach Annonay zurück, weil sein Vater ihm als seinem ältesten Sohn die Leitung der Textilfabrik übertragen wollte. Es zeigte sich jedoch sehr bald, dass Marc wenig Interesse an dem Unternehmen hatte und sich lieber mit den technischen Fragen seiner Zeit beschäftigte. Am meisten interessierte er sich für die verschiedenen Bereich der Verkehrstechnik, da der Transport von Rohstoffen, Waren und Menschen die Voraussetzung für jeglichen industriellen Aufschwung war. Vor der Erfindung von Dampfmaschine und Eisenbahn beschränkten sich die Möglichkeiten des Verkehrs auf die Binnenschifffahrt und auf Fuhrwerke, die von Pferden oder Ochsen über zumeist schlechte Straßen gezogen werden mussten.
Die "Passarelle de Saint-Antoine" in Genf wurde 1823 von Guilleaume Henri Dufour nach Entwürfen von Marc Séguin errichtet.
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Nachdem er Studienreisen nach England und in die Schweiz unternommen hatte, begann Séguin sich intensiv mit dem Bau von Hängebrücken zu beschäftigen. Obwohl er auf seinen Reisen vor allem Kettenbrücken gesehen hatte, scheint Séguin seine Hoffnungen von Anfang an in Drahtseile gesetzt zu haben. Vielleicht waren ihm die ersten Versuche mit Kabelbrücken aus Amerika bekannt. Die Drahtfabrikanten Hazard & Whire sollen im Jahre 1816 eine 124 m weit gespannte aber nur 45 cm breite Fußgängerbrücke über den Schuylkill errichtet haben. Im Allgemeinen wird dieser Steg als die erste Drahtkabelbrücke der Welt bezeichnet, aber es scheint um diese Zeit auch in Schottland schon Versuche mit Eisendrähten gegeben zu haben. 1
In seiner Heimatstadt errichtete Marc Séguin 1822 auf der Basis von Drahtkabeln seine erste experimentelle Hängebrücke über den Fluss Cance. Auf dieses kleine, nur für Fußgänger geeignete Bauwerk, wurde der damals in ganz Europa bekannte Wissenschaftler Marc-Auguste Pictet (1752-1825) aufmerksam. Der Schweizer besuchte Séguin in Annonay und veröffentlichte anschließend einen "Reisebericht", in dem er die Brücke beschrieb. Die öffentliche Beachtung führte dazu, dass Séguin 1823 als Berater von Pictet und Guilleaume Henri Dufour (1787-1875) beim Bau einer Fußgängerbrücke in Genf hinzugezogen wurde.
Die "Passerelle des Saint-Antoine" führte über den Doppelgraben der Stadtbefestigung hinweg und hatte zwei Hauptspannweiten von jeweils 33 m. Die nach den Zeichnungen Séguins errichtete Brücke gilt als die erste für den Dauerbetrieb konzipierte Drahtseilbrücke der Welt. Aufgrund der Erfahrungen bei ihrem Bau errichtete Dufour später noch zwei ähnliche Brücken in Genf.
Die höher gelegte Pont de Tournon nach dem Umbau zu einer reinen Fußgängerbrücke. Ganz rechts die heute noch vorhandene Passerelle de Marc Séguin aus dem Jahr 1847.
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Anfang 1824 begann Marc Séguin mit dem Bau einer deutlich größeren Brücke über die Rhône. Sie sollte die erste Drahtkabelbrücke der Welt werden, die auch für schwere Fuhrwerke geeignet war. Im August 1825, nach einer Bauzeit von 18 Monaten, wurde die Hängebrücke zwischen Tournon und Tain (Departement Ardeche) eröffnet. Sie bestand aus einem zentralen Mittelfeiler mit zwei seitlichen Abspannungen von je 89 m, sowie Verankerungspunkten an beiden Uferseiten. Der Mittelpfeiler und die Verankerung auf der Nordseite (Tain) waren auf Pfählen gegründet.
Jedes der acht Kabel bestand aus 112 Eisendrähten mit einer Stärke von knapp 3 mm. Die Kabel wurden nicht gedreht, sondern - wie auch heute üblich - parallel nebeneinander gelegt und anschließend mit einem weiteren Draht fest umwickelt. Séguin verwendete für die Kabelmontage bereits einen Vorläufer des sog. Luftspinnverfahrens, welches zuerst von Louis J.Vicat und später noch einmal von Johann A. Roebling entscheidend verbessert wurde.
Als der Pont de Tournon vollendet war, gab es in ganz Europa keine modernere Brücke. Nur 22 Jahre später war sie aber selbst dem technischen Fortschritt im Wege, weil sie für die aufkommende Dampfschifffahrt zu niedrig war. Die Brüder Séguin wurden vor die Wahl gestellt die Brücke abzureißen und eine neue zu errichten, oder die vorhandene Brücke entsprechend umzubauen. Um ihre "alte" Brücke zu retten machten die Séguins beides: im Jahr 1847 bauten sie die vorhandene Brücke in eine reine Fußgängerbrücke um, indem sie den Gehweg einige Meter höher legten. Zwei Jahre später vollendeten sie ein Stück stromabwärts eine neue Brücke nach den gleichen Prinzipien, die nun den Vorgaben der königlichen Anordnung entsprach.
Die noch vorhandene Rhonebrücke zwischen Tournon und Tain aus dem Jahr 1847. Sie war die zweite Brücke der Séguins in Tournon und ist heute nur noch für Fußgänger zugelassen. © Herrad Taubenheim |
Erst 1965, nach 140 Jahren unter Verkehr, wurde die erste Rhônebrücke Séguins dann leider abgebrochen. Die zweite Brücke aus dem Jahr 1849 besteht noch heute, ist aber seit 1958 nur noch für Fußgänger und Radfahrer zugelassen. Sie trägt nun den Namen 'Marc Séguin Brücke', obwohl sie - wie alle seine Bauwerke - als Gemeinschaftswerk mit seinen Brüdern entstand. Die jeweiligen Arbeitsanteile der vier Brüder ist heute kaum noch nachvollziehbar. Bei Marc Séguins Brückenprojekten scheinen ihn aber vor allem Camille (1793 - 1852) und Jules (1796 - 1868) unterstützt zu haben. 2
In den darauf folgenden Jahren errichteten die Brüder Séguin noch mehr als 180 weitere Drahtkabelhängebrücken nach ihrem System. Aufgrund seiner vorzüglichen Ausbildung und seiner Stellung als ältestem Sohn der Familie, scheint Marc bei den meisten Projekten der technische Kopf des Unternehmens gewesen zu sein. Die Erfolge der Familie Séguin beim Bau von Hängebrücken leisteten einen entscheidenden Beitrag für den weltweiten Triumph der Drahtkabel über die Ketten.
Von den vielen Hängebrücken der Brüder Séguin sei hier noch die Pont d'Andance aus dem Jahr 1827 besonders erwähnt, weil sie heute als die älteste noch unter Verkehr stehende Hängebrücke auf dem europäischen Festland gilt. Um die Schifffahrt nicht zu behindern, waren die Séguins schon bei dieser Brücke von der Lösung mit nur einem zentralen Pfeiler abgerückt und wählten die heute gebräuchliche Form mit zwei Pylonen in Ufernähe. Diese Bauform erforderte zwar einen Pylon mehr, erleichterte aber auch die Gründung, die bei einem zentralen Pfeiler in der Regel an der tiefsten Stelle des Flusses erfolgen musste.
Die Rhonebrücke in Andance ist die älteste noch heute unter Verkehr stehende Hängebrücke auf dem europäischen Festland. © Herrad Taubenheim |
Trotz seiner zeitraubenden Aktivitäten im Brückenbau widmete sich Marc Séguin in den Jahren von 1825-1835 einer Fülle von weiteren Verkehrsproblemen der damaligen Zeit. Dazu gehörte der Bau eines der ersten französischen Dampfschiffe, das ab 1824 auf der Rhone verkehrte. 'Le Voltigeur' war mit einigen Neuerungen ausgestattet, die zu einer erheblichen Leistungssteigerung gegenüber den herkömmlichen Dampfmaschinen führten. Besonders wirkungsvoll zeigte sich der Röhrenkessel, bei dem das Wassers vorerhitzt wird, indem man den heißen Rauch in eisernen Röhren durch den Tank führte.
1826 erwarben die Brüder Séguin die staatliche Konzession zum Bau einer 56 km langen Eisenbahnstrecke zwischen St. Etienne und Lyon. Zu Beginn der Bauarbeiten ging Séguin noch davon aus, dass die Schienen in einer Richtung ein gleichmäßiges Gefälle haben müssten, damit die Wagen nur durch die Erdanziehungskraft bergab rollen könnten. Bei der Bergfahrt sollten sie dann von Pferden gezogen werden. Nachdem er aber aus England von den ersten Versuchen mit dampfbetriebenen Lokomotiven gehört hatte, reiste er umgehend auf die Insel. In Newcastle besuchte er die Fabrik von Georg und Robert Stephenson um sich die "Locomotion" mit eigenen Augen anzusehen.
Marc Séguin ließ sich zwei Lokomotiven von Stephenson nach Frankreich liefern und baute sie in der Weise um, wie er es bereits bei seinem Dampfschiff praktiziert hatte. Diese und weitere Verbesserungen führten zu einer enormen Leistungssteigerung, die sich in einer siebenfach höheren Geschwindigkeit niederschlug. Stephenson soll so begeistert von der Verbesserung Séguins gewesen sein, dass er den Röhrenkessel in seiner "Rocket" einbaute, mit der er 1829 das legendäre Eisenbahnrennen von Rainhill gewann. Von britischer Seite wird diese Darstellung allerdings bis heute bestritten und auch die Erfindung des Röhrenkessels Stephenson zugeschrieben.
Die von Marc Séguin verbesserte Lokomotive. Hinter der Lok befand sich eine Art riesiger Blasebalg, der den Verbrennungsvorgang optimierte.
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Als die Eisenbahnstrecke St. Etienne - Lyon 1832 den Betrieb aufnahm, vertrauten die Investoren zunächst noch dem geplanten Pferdebetrieb. Um das gleichmäßige Gefälle der Schienen zu realisieren, war der Bau von zahlreichen Brücken erforderlich. Aber auch der damals mit 1,5 km längste Tunnel Europas war Teil der Strecke. Ein Jahr später wurden die Pferde dann von Séguins Lokomotiven abgelöst. Marc Séguin baute insgesamt 12 Dampfloks. Sein Prototyp war die erste Lokomotive Frankreichs.
Obwohl er noch keine 50 Jahre alt war, zog sich Marc Séguin nach Vollendung der Eisenbahnlinie mehr und mehr aus dem aktiven Unternehmertum zurück. Schon zuvor hatte er sich immer wieder wissenschaftlichen Betrachtungen gewidmet und diese teilweise auch publiziert. Bereits 1824 erschien in Paris "Des Ponts en fil de fer" (Die Brücken aus Eisendraht). Seine erfolgreichste Veröffentlichung "De l'influence des chemins de fer et de l'art de les tracer et de les construire" erschien 1839.
Es gab aber noch einen wichtigeren Grund für den frühen Rückzug aus dem aktiven Berufsleben, denn Marc Seguin war trotz aller beruflichen Erfolge ein ausgesprochener Familienmensch. Er war zweimal verheiratet und hatte insgesamt 19 (!) Kinder, die vorher sicherlich nicht viel von ihrem vielbeschäftigten Vater gesehen hatten. Nachdem seine erste Frau Rose Augustine Duret verstorben war, heiratete er die 33 Jahre jüngere Augustine de Montgolfier.
Die beiden Brüder, die Marc Séguin bei den Brückenprojekten hauptsächlich unterstüzten: links: Camille Seguin (1793 - 1852); rechts: Jules Seguin (1796 - 1868).
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1858 kaufte er dem Bürgermeister von Annonay das Anwesen Varagnes südlich von Annonay ab, das er mit seiner großen Familie bezog. Ab diesem Zeitpunkt war die Pflege und die Erweiterung des ohnehin schon großzügigen Gebäudekomplexes seine liebste Beschäftigung. Als Marc Séguin starb, gab es in Varagnes eine Schmiede, eine Schreinerei, verschiedene andere Werkstätten und Labors, eine Sternwarte, eine umfangreiche Bibliothek, ein Gewächshaus und eine Kapelle mit 300 Sitzplätzen. Im Badezimmer hatte Seguin ein mit Meerwasser gefülltes Schwimmbecken installiert, in dem rotierende Schaufeln die Illusion einer Brandung erzeugten.
Um das Haus herum gab es eine parkähnliche Anlage, von der aus man bei gutem Wetter die Alpen sehen konnte. Im von drei Seiten umschlossenen Innenhof baute er für die Kinder eine komplette Miniatureisenbahn mit einer Spurweite von 50 cm, auf der eine echte Dampflokomotive in der entsprechenden Größe fuhr. Noch heute wird Varagnes von Marc Seguins Nachfahren bewohnt.
Nach einem beruflich wie privat überaus erfüllten Leben, starb Marc Séguin am 24. Februar 1875, im Alter von 88 Jahren, im Kreise seiner Familie. Marc Séguins Familiengrab befindet sich an der höchsten Stelle des Friedhofs in Annonay. Seine zweite Ehefrau und zahleiche Nachkommen sind neben ihm bestattet. Marc Séguin gehört zu den 72 verdienstvollen französischen Wissenschaftlern und Ingenieuren, deren Name auf dem Eiffelturm eingraviert ist.
1 Nach Berg (siehe Quellenangaben) soll der Tuchfabrikant Richard Lees um 1816 bei Galashiels die erste Hängebrücke Großbritanniens mit Drahtseilen errichtet haben. Sie überspannte den Fluß Gala und hatte eine Spannweite von 34 m.
2 Die weiteren Brüder waren Paul (1797-1875) und Charles (1793-1858). Die fünf Brüder hatten auch noch eine Schwester namens Thérèse (1799-1823), die jedoch sehr jung verstarb.